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Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Titel: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Silvey
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glauben, du hättest keine Eltern?»
    Am liebsten würde ich ihre Hand wegstoßen, ihr gegen die Schienbeine treten und wieder nach draußen rennen.
    «Was heißt hier, du warst nur in der Bücherei? Ach so! Du warst also
nur
in der Bücherei. Nachdem ich dir
befohlen
habe, unsere Straße nicht zu verlassen und erst aus dem Haus zu gehen, wenn du dich umgezogen hast. Es ist
gefährlich
da draußen, Charlie. Ist dir das klar? Auf den Straßen treibt sich ein verdammter Entführer herum, und du spazierst durch die Gegend wie Graf Koks! Für wen hältst du dich?»
    «Was?»
    «Ein Mädchen wird vermisst, Charlie», zischt sie mir ins Gesicht. Sie gräbt die Fingernägel in meinen Arm. «Laura Wishart wird
vermisst
. Verstehst du das?»
    «Vermisst oder entführt?», frage ich, weil ich wissen will, was sie gehört hat.
    «Komm mir nicht
so
!», faucht sie und will mir noch eine kleben. Ich verlagere das Gewicht, und sie erwischt mich am Ohr, dass ich die Glocken läuten höre. Einen Moment lang habe ich das Gefühl, unter Wasser zu sein. Ohne nachzudenken, stoße ich sie fort. Sie wirkt verblüfft.
    «Geh auf dein Zimmer», schreit sie.
    «Ich kann nicht! Da ist eine Wespe!»
    «Was?»
    «In meinem Zimmer ist eine Wespe! Deshalb konnte ich mich nicht umziehen!»
    «Das ist mir egal!», schreit sie und zeigt zum hinteren Teil des Hauses.
    «Ja, das merkt man schon eine ganze Weile!»
    «
Wie
bitte?» Sie beugt sich angriffslustig nach vorn und stößt die Worte zwischen den Zähnen hervor.
    «Gott
verdammt
!», brülle ich. «Dann gehe ich halt und lass mich stechen, verflucht noch mal!»
    Dann marschiere ich davon, meine Mutter dicht hinter mir. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich habe gerade in Gegenwart meiner Mutter
geflucht
. Näher kann man einem Harakiri ohne Schwert nicht kommen. Ich werfe die Tür zu und verrammle sie mit einem Penguin-Taschenbuch, ehe sie hereinstürmen und mich erschlagen kann.
    Sie tobt auf der anderen Seite, aber meine größte Sorge gilt im Moment der Wespe, die möglicherweise in meinem Zimmer eingeschlossen ist. Hastig suche ich Wände und Decke ab. Ich schnappe mir meine offen daliegende Ausgabe von
Die Nackten und die Toten
vom Bett und ziehe mich in eine Ecke zurück. Was Norman Mailer in diesem Moment wohl von mir halten würde? Wahrscheinlich würde er grinsend den Kopf schütteln und mich einen verdammten Feigling nennen. Und mit einem Taschenmesser auf mich losgehen. Mir ist heiß vor Wut und Scham.
    Das Geschrei hört auf. Mit dem Buch in der Hand suche ich jeden Zentimeter meiner Schlafveranda ab. Anscheinend ist die Wespe auf wundersame Weise verschwunden. Fürs Erste. In anderer Hinsicht habe ich natürlich in ein ganzes Wespennest gestochen.
    Meine Mutter stürmt ins Zimmer, als wäre sie die Gestapo. Das verkeilte Taschenbuch saust über den Boden. Mit bitterbösem Blick funkelt sie mich an, krümmt den Zeigefinger wie einen knorrigen Kleiderhaken und winkt mich zu sich. Sie hält einen Spaten in der Hand. Ich weiß nicht, warum. Ich hoffe nur, dass der nicht als Waffe gedacht ist.
    «Komm mit», sagt sie.
    Ich erhebe keine Einwände und folge ihr nach draußen.
    Es ist heller Nachmittag und unerträglich heiß. Im grellen Sonnenlicht muss ich die Augen zusammenkneifen. Ich stehe regungslos da, während sie ausholt und die Spitze des Spatens mehrmals gezielt in den Boden stößt, als sei sie hinter einem Wesen her, das sie töten will. Als sie aufhört, hebe ich den Kopf. Sie hat den Umriss eines Kreises angelegt, dessen Durchmesser etwa so breit ist wie meine Arme lang. Ich runzle die Stirn.
    Meine Mutter drückt mir den Spaten in die Hand.
    «Was ist das?», frage ich.
    «Ein Spaten», sagt sie kurz angebunden. Ich kann ihren Ton nicht einordnen, nicht heraushören, ob sie verletzt oder wütend oder zufrieden mit sich ist. Vielleicht ist sie alles zusammen.
    «Das weiß ich», erwidere ich.
    «Dann fang an zu graben. Genau hier.» Sie weist mit dem Finger auf ihre groben Markierungen.
    «Was? Warum?», frage ich kleinlaut. Ich bin aufrichtig verwirrt.
    «Das wirst du schon noch sehen. Wenn es tief genug ist, kannst du aufhören.»
    Ich schüttele den Kopf.
    «
Was?
Nein! Es ist viel zu heiß!»
    Ihre Nasenflügel beben, als sie mir mit dem Finger in die Brust sticht.
    «Ich sage es dir nicht noch einmal, Charlie. Du wirst so lange graben, bis das Loch tief genug ist. Wenn nicht, verbringst du den restlichen Sommer in deinem Zimmer, ob mit oder ohne Wespen. Hast

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