Wer hat Angst vor Jasper Jones?
mich hinein, weil es mir gelungen ist, sie zu ärgern, doch die Freude währt nicht lange. Ich hebe den Spaten auf und halte ihn hoch wie einen Speer, aber der Tausendfüßler ist verschwunden. Dass ich ihn nicht sehen kann und nicht weiß, wo er ist, macht die Sache nur noch schlimmer. Wahrscheinlich lauert er unter der Erde und wartet nur darauf zuzuschlagen, wie eines dieser verrückten außerirdischen Tentakelwesen aus dem
Krieg der Welten
. Es kribbelt auf meinem Rücken, und ich muss plötzlich pinkeln.
«Grab weiter!», schreit meine Mutter, und ich gehorche.
Es ist kaum zu fassen, wie
hart
sie geworden ist. Sie war schon immer barsch und ungeduldig, aber früher verbarg sich darunter auch eine gewisse Wärme. Vielleicht hat sie jetzt endgültig die Nase voll. Für alle, außer meinen Vater, ist sonnenklar, dass sie Corrigan hasst. Ich vermute, dass sie es immer getan hat. Natürlich kann ich nur spekulieren, aber die Tatsache, dass meine Eltern sechs Monate vor meiner Geburt geheiratet haben und hierhergezogen sind, deutet darauf hin, dass sie heiraten und sich weit weg von der Großstadt niederlassen
mussten
. Oder es war der einzige Ort, an dem mein Vater eine Stelle finden konnte. Vielleicht war es auch Abenteuerlust, ein neuer Anfang in einem aufstrebenden Bergarbeiterstädtchen.
Ist aber eher unwahrscheinlich.
Meine Mutter stammt nämlich aus altem Geldadel. Und den zahllosen schnippischen Kommentaren, die ich zufällig mitgehört habe, entnehme ich, dass von ihr erwartet wurde, in ähnliche Kreise einzuheiraten.
Mein Vater stammt aus ganz anderen Verhältnissen. Mein Großvater war ein Arbeiter, der früh an Tuberkulose starb. Nach dem, was ich mir zusammengereimt habe, mussten die älteren Brüder meines Vaters die Schule verlassen, um für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen. Da er mit Abstand der Jüngste war, hatte mein Vater es leichter und konnte auf der Schule bleiben, wo er sich hervorragend machte. Alle waren überzeugt, er würde Arzt oder Rechtsanwalt werden. Sie wollten, dass er die Chancen bekam, die ihnen verwehrt geblieben waren. Und ich glaube, es war für alle eine große Enttäuschung, als er erklärte, dass er Literatur studieren würde.
Meine Eltern haben sich an der Universität kennengelernt. Es ist schwer, sie sich als junge Menschen vorzustellen, mit vollem Haar und glatter Haut. Und noch schwerer, sie als Verliebte zu sehen, an den Ufern des Swan River, glücklich darüber, zusammen zu sein. Ich frage mich, ob Dad damals vorhatte, Schriftsteller zu werden. Und ob es das war, was meine Mutter zu ihm hinzogen hat. Ich weiß es nicht. Jedenfalls verband ihn kaum etwas mit der Welt, in der sie aufgewachsen war.
Als sie mit mir schwanger wurde, blieb meinem Vater gerade genug Zeit, um sein Studium zu beenden und meine Mutter zu heiraten, ehe ihre Rundung zu offensichtlich wurde. Meine Mutter hat ihr Studium nie abgeschlossen und mein Vater nie einen Roman veröffentlicht.
Und dreizehn Jahre später kann sogar ein Blinder mit Krückstock sehen, dass sie hier todunglücklich ist. Unzufrieden mit ihrem Los und ihrem Leben. Nachdem meine kleine Schwester starb, hat sie für eine Weile aufgegeben, glaube ich. Vermutlich hat sie sich aus einem Gefühl der Resignation heraus in eine Rolle gefunden. Sie trat der Vereinigung Christlicher Frauen bei, mischte sich unter die führenden Damen von Corrigan, sorgte bei Festen für Speisen und Getränke und gehörte zur Faltenrockfraktion sämtlicher Frauenvereine und -verbände der Stadt. Sie hat alle Gemeindeaktivitäten abgehakt. Und jetzt? Jetzt ist sie nur noch wütend. Der Lack ist ab. Und sie hat keine Lust mehr, ihn zu erneuern. Sie ist mit ihrer Geduld am Ende.
In letzter Zeit besucht sie immer häufiger ihre Familie, vor allem in diesem Sommer. Während sie früher ein- oder zweimal im Jahr für einen längeren Aufenthalt in die Großstadt fuhr, bleibt sie jetzt oft übers Wochenende oder über Nacht fort und kündigt kaum noch an, wenn sie vorhat wegzufahren. Sie sorgt lediglich dafür, dass mein Vater und ich genug zum Essen und zum Anziehen haben, und fährt dann ohne großes Tamtam davon, als ginge sie nur kurz zum Metzger.
Wenn sie früher fortfuhr, kam sie erfrischt zurück. Sie ging mit federnden Schritten und brachte Geschenke und Klatschgeschichten mit. Ihre Laune hatte sich aufgehellt, und sie war weniger streng zu mir und freundlicher zu meinem Vater. Wenn sie jetzt nach Hause kommt, ist sie bitter und gereizt,
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