Wer hat Angst vor Jasper Jones?
das rauszufinden. Das und noch mehr. Ich habe mir Folgendes überlegt: Es kann gut sein, dass Laura in der Nacht
allein
an Lionels Grundstück vorbeigelaufen ist. Vielleicht hat sie versucht, auf eigene Faust herzufinden. Und er hat die Gelegenheit genutzt. So stelle ich es mir vor.»
«Und warum hätte sie das tun sollen?»
Jasper rutscht unruhig hin und her. Nimmt einen tiefen Zug an seiner Zigarette.
«Na ja, weißt du, normalerweise hat sie gewartet, dass ich komme und sie abhole. Ich bin nachts zu ihr ans Fenster gekommen, und dann sind wir zusammen hierhergegangen. Oder sie hat sich aus dem Haus geschlichen, und wir haben uns unter einer der Weidenmyrten in ihrer Straße getroffen. Aber manchmal hatte sie keine Lust mehr zu warten. Dann ist sie zu meinem Haus gegangen und hat nach mir gesucht. In den letzten Monaten hat sie sich ständig mit mir treffen wollen. Jeden zweiten Tag wollte sie herkommen. So als ob sie überhaupt nicht mehr zu Hause sein wollte, verstehst du.» Jasper drückt eine weitere Zigarette aus und steckt den Stummel ein. Er kratzt sich am Hals und zupft an seiner Nase. Er wirkt irgendwie nervös. Ich beuge mich vor.
«Um ehrlich zu sein, Charlie, hab ich Laura schon eine Weile nicht mehr gesehen. Ich hab dir ja erzählt, dass ich als Pflücker auf den Plantagen war, um das erste Steinobst zu ernten und ein bisschen Kohle fürs Weggehen zu verdienen. Das Problem ist, dass ich ihr nicht Bescheid gesagt hab. Ich bin einfach weggegangen. Ich wusste, dass es ihr nicht recht sein wird, wenn ich sie so lange allein lasse, also bin ich einfach gegangen. Es war dumm, aber ich konnte nicht anders. Nicht bloß weil ich was in der Tasche haben wollte, wenn wir hier weggehen, sondern weil ich wieder mal ein bisschen Zeit für mich haben wollte. Es hat mir gefehlt, hier allein zu sein. So wie früher. Und weil wir vorhatten, bald zusammen wegzugehen und so, wollte ich einfach ein bisschen für mich sein.» Er zuckt die Achseln.
«Ist schon gut», sage ich. «Das verstehe ich. Mir geht es manchmal genauso.»
Jasper schaut kopfschüttelnd auf und holt tief Luft.
«Das Verrückte ist, dass ich letzten Donnerstag hundemüde nach Hause gekommen bin, die Taschen voller Geld, und mich gleich auf die Suche nach Laura gemacht hab. Ehrlich gesagt hab ich mir Sorgen gemacht. Außerdem
wollte
ich sie sehen. Sie hat mir gefehlt. Ich hab ständig an sie gedacht, als ich weg war. Als ich gesehen hab, dass ihr Fenster offen steht, hab ich es zugemacht und bin zurück zu mir nach Hause, um zu sehen, ob sie dort vielleicht auf mich wartet. Aber ich konnte sie nicht finden. Also hab ich in der Stadt nach ihr gesucht und am Fluss, auf dem Weg, den wir immer gegangen sind. Nichts. Am Ende bin ich hierher zurückgekommen.»
«Und hast sie gefunden», sage ich. Jasper nickt langsam.
«Vielleicht hat sie versucht hierherzukommen, während ich sie gesucht hab. Wahrscheinlich wollte sie nicht länger warten und hat sich rausgeschlichen, um auf eigene Faust loszuziehen. Und dazu musste sie an Lionels Grundstück vorbei, verstehst du? So stell ich’s mir vor, Charlie. Das war der Zeitpunkt, wo die Sache aus dem Ruder gelaufen ist, Kumpel. Ich weiß nicht, vielleicht hast du ja recht. Vielleicht wusste sie wirklich, wie man herkommt, oder sie war dickköpfig genug, es einfach drauf anzulegen. Vielleicht ist Lionel ihr nachgegangen. Oder er ist uns beiden irgendwann nachgegangen und kannte den Weg.»
Ich versuche mir das durch den Kopf gehen zu lassen, wie Atticus Finch es tun würde. Doch das ist schwer, denn Jasper hat sich so sehr auf diesen Ablauf festgelegt, dass es für ihn fast schon eine Tatsache ist. Ich schüttle den Kopf. Es überfordert mich.
Jasper hustet und spuckt. «Damit hab ich es verbockt, Charlie. Ich hab es zu lange schleifen lassen. Ich hätte nicht weggehen sollen, ohne ihr Bescheid zu sagen. Hätte früher zurückkommen oder ihr wenigstens schreiben müssen. Es spielt keine Rolle, wer es war …» Jasper deutet auf den Ast über uns. «Weil es nämlich
meine
Schuld ist. Ich bin schuld, dass das passiert ist.»
«Aber Jasper», wende ich ein und hebe die Hände, «wir wissen doch gar nicht, was passiert ist. Darum geht es doch.»
«Klar wissen wir, was passiert ist, Charlie. Wir wissen bloß nicht,
wie
oder
warum
.»
«Wie auch immer.» Ich schüttle den Kopf. «Du hast keinen Grund, dich schuldig zu fühlen. Das ist absurd. Es hat nichts mit dir zu tun. Egal, was wir herausfinden, es ist nicht
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