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Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Titel: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Silvey
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gedacht.»
    «An Poker?»
    «Ja. Hab dabei noch nie Geld verloren. Kein einziges Mal. Schätze, ich hab Talent dafür. Ich könnte mir unter der Woche genug zum Leben zusammenkratzen und es dann am Wochenende verzehnfachen. So mach ich es auch auf den Plantagen. Tagsüber schufte ich, was das Zeug hält, steck die Kohle ein, und dann sehe ich zu, dass ich irgendwo ein Spielchen machen kann, wo ich richtig Geld verdiene.»
    «Ehrlich?»
    «Ist kinderleicht, glaubs mir. Beim Poker geht’s nämlich nicht um Glück, Charlie. Das hat nix damit zu tun. Beim Poker dreht sich alles darum, wie du dich am Spieltisch benimmst. Du darfst dir nix anmerken lassen. Und wenn doch, muss es mit Absicht sein. Du musst ihnen den Schneid abkaufen.» Jasper legt eine Pause ein, um ein Streichholz anzuzünden und an die nächste Zigarette zu halten. «Aber vor allem geht es darum, die Leute zu durchschauen. Und das kann ich am besten. Hab wahrscheinlich Talent dafür. Ehrlich. Ist wie ein sechster Sinn oder so was. Wenns um Geld geht, ist es nämlich völlig egal, wer du bist, ab einem gewissen Punkt lässt es keinen mehr kalt. Und wenn genug davon auf dem Tisch liegt, verraten sich die Kerle mit den Augen. Es ist fast so, als ob ich es riechen kann, wenn sie lügen.»
    «Das geht mir auch so. Ich weiß, dass sie lügen, bevor die Leute überhaupt den Mund aufmachen. Vor allem bei meinen Eltern.»
    «Dann musst du auch ein guter Pokerspieler sein.»
    «Nö, das glaube ich nicht. Ich kann nicht besonders gut lügen. Ich werde bloß rot und zappelig.»
    «Du musst nicht lügen, Charlie. Bloß so aussehen, als wäre dir alles scheißegal.»
    «Das kann ich auch nicht. Ich wünschte, ich könnte es.»
    Wieder nehme ich die Flasche. Dann reibe ich mir mit gesenktem Blick den Hinterkopf. Vielleicht macht er es so. Vielleicht findet sich Jasper auf diese Art im Leben zurecht und schafft es, trotz der schlechten Karten, die er immer wieder zugeteilt bekommt, oben zu bleiben. Benutzt sein Pokergesicht wie eine Superheldmaske. Er verbirgt sein Misstrauen und lässt sich nichts anmerken. Dennoch ist es eine Lüge, oder nicht? Es ist nur ein Ablenkungsmanöver. Das ist sein Trick. Sein Achselzucken ist reines Theater. Ein Mythos. Es ist seine Art, sein schlechtes Blatt zu verbergen.
    Wie bei Laura zum Beispiel. Als er mir in jener Nacht beim Weinen den Rücken zuwandte oder sein abwesendes Nicken vorhin, als ich ihn fragte, ob sie ihm fehle. Er hat die Maske wieder aufgesetzt, sein Alter Ego.
    Jasper Jones hat sein Mädchen verloren und vielleicht auch seine beste Freundin. Den einzigen vertrauten Menschen auf der Welt. Es kommt mir so unsagbar traurig vor, dass ich es mir gar nicht vorzustellen wage. Jemanden zu verlieren, der einem so nahe steht; jemanden, auf den er alle Hoffnungen gesetzt hatte. Jemanden, mit dem er flüchten und neu anfangen wollte. Und sie dann so zu sehen, genau hier, wo ich sitze. Was für eine grauenhafte Kette von Ereignissen. Aber Jasper Jones muss sein Pokergesicht bewahren. Er muss diesen Deckmantel über sein Herz legen. Ich frage mich, wie viel Lebenszeit er damit verbringt, so zu tun, als sei ihm alles scheißegal.
    Es muss ein einsames Leben sein. Ich frage mich, ob Jasper mich hier wirklich benötigt, um die Sache aufzuklären, oder ob er einfach Gesellschaft braucht. Und ob er mich als Freund betrachtet. Ich hoffe es. Ich stelle mir vor, wie er hier mit Laura sitzt und plaudert. Und ich frage mich, ob er sonst noch jemanden zum Reden hat. Wahrscheinlich nicht.
    Ich glaube, ich bin betrunken. Bin ich betrunken? Ich weiß es nicht. Ich fühle mich ein bisschen benebelt. Ich kann meinen Pulsschlag in den Schläfen spüren und stelle den Whiskey neben mich.
    «Willst du immer noch fortgehen? In die Großstadt, meine ich.»
    «Wahrscheinlich schon.» Jasper schnieft. «Ich hab nachgedacht. Wenn dieser ganze Schlamassel aufgeklärt ist, mach ich mich auf die Socken. Bloß wohin, weiß ich noch nicht.»
    «Aber ist das nicht ein bisschen früh?», frage ich. «Du bist doch nur ein Jahr älter als ich. Wir sind ja eigentlich noch Kinder. Willst du nicht lieber noch warten?»
    «Worauf denn? Außerdem hab ich mich nie wie ein Kind gefühlt, Charlie. Du verstehst das nicht. Ich sorge schon so lange, wie ich denken kann, für mich, für Essen, Klamotten, meinen Schlafplatz, einfach für alles. Ich hab dir ja gesagt, dass es keine Rolle spielt, wie alt man ist. Älter werden alle. Einen Beruf lernen, Steuern zahlen und eine

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