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Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Titel: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Silvey
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finde ich. Hast du schon mal von der Osterinsel gehört?»
    Jasper trinkt in großen Zügen und hustet. Seine Lippen sind nass.
    «Ist das die mit den riesigen Steinköpfen?»
    «Ja, genau.»
    «Um die Köpfe zu bauen, haben sie alle Bäume abgehackt und konnten danach keine Kanus mehr herstellen. Und dann sind sie gestorben, weil sie keine Fische mehr fangen konnten.»
    «Ja, so ungefähr ist es gelaufen. Auf jeden Fall war es die abgelegenste Zivilisation, die es je gab. Vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten. Tausend Meilen ab vom Schuss und Wasser, so weit das Auge reicht. Da kann man schon verstehen, warum sie sich für den Mittelpunkt des Universums gehalten haben. Alles, womit sie sich auskannten, waren Fische, Kartoffeln und Vögel, die sie am meisten verehrt haben. Vor der Hauptinsel liegen ein paar große Felsen, auf denen die Vögel genistet haben. Und wenn es mit dem Nisten losging, sahen sie das als Ankündigung ihrer Götter, dass ein neues Jahr geboren war. Die Eier waren Geschenke.»
    «Alles klar.»
    «Dann gab es diesen Wettkampf. Jeder Häuptling auf der Insel hat den fittesten Mann aus seinem Clan ausgewählt, und die Männer mussten dann zu den Felsen rausschwimmen, wo es vor Haien nur so gewimmelt hat, um das erste Ei der Nistsaison zu holen. Sobald einer ein Ei ergattert hatte, musste er zurückschwimmen, mit dem Ei auf den Kopf gebunden, ein dreihundert Meter hohes Kliff hochklettern und es seinem Häuptling präsentieren, der in einer Steinhütte auf ihn gewartet hat. Der Häuptling, der sein Ei als Erster bekam, wurde dann der Vogelmann.»
    «Der
Vogelmann

    «Na ja, er wurde mehr oder weniger das geistige Oberhaupt. Eine Art Botschafter oder Vertreter ihres Gottes. Der Papst der Osterinsel. Und sein Clan hatte dann ein Jahr lang die Oberherrschaft über die Insel.
    Außerdem musste er sich von allen anderen absondern. Er hat sich das Gesicht rot und schwarz angemalt und durfte sich weder Haare noch Fingernägel schneiden. Und er musste sich einen toten Vogel auf den Rücken binden.»
    «Einen toten Vogel?» Jasper hebt die Augenbrauen.
    «Einen toten Vogel auf den Rücken.»
    «Dann war es wahrscheinlich gar nicht so verkehrt, dass er sich absondern musste.»
    «Da ist was dran.»
    «Und viel Glück beim Hinternabwischen mit zwanzig Zentimeter langen Fingernägeln.» Jasper lächelt.
    «Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Er hatte bestimmt jemanden, der das für ihn erledigte.»
    «Das nenne ich mal einen Job, Charlie.»
    «Komm schon. Das ist eine Ehre und kein Job.»
    «Wenn du willst, kannst du mir ehrenhalber jederzeit den Hintern abwischen, Kumpel.»
    «Nur wenn du dir ein Jahr lang einen toten Pelikan um den Hals hängst.»
    Jasper lacht laut los. Als er das Gesicht verzieht, sieht es aus, als habe er Schmerzen. Er fährt sich mit der Zunge in den Mundwinkel.
    «Abgemacht», sagt er. «Das wär beschlossene Sache, Charlie. Ich würde dir ja die Hand schütteln, aber ich hab gerade rausgefunden, wo sie vorher war!»
    Wir lachen weiter und trinken noch ein wenig Whiskey, dessen Pegel dem Flaschenboden jetzt deutlich näher ist als dem Flaschenhals.
    «Trotzdem ist es irgendwie faszinierend, findest du nicht? Sich vorzustellen, dass sie versucht haben, sich alle diese Fragen mit dem zu beantworten, was auf einem winzigen Stückchen Erde zu finden war.»
    «Genau das ist der Punkt, Charlie. Es ist alles bloß eine riesige Osterinsel. Eine gewaltige Schneekugel. Ob es um Vogelmänner oder Sonnengötter, riesige Weltraumschildkröten oder um Jesus geht. Was ich mich frage, ist, warum wir es mit der Erde heutzutage nicht genauso sehen können? Jetzt, wo wir so viel über andere Planeten, Sterne und Galaxien rausgefunden haben; wo wir wissen, dass sie rund ist und sich dreht und abhängig ist von der Sonne; wo sie nicht mehr das Einzige ist, was wir kennen. Warum treten wir weiter auf der Stelle? Und warum muss immer alles für
uns
da sein? Warum sind
wir
was Besonderes? Es gibt keinen Gott, Charlie. Jedenfalls nicht so, wie sie behaupten. Genauso wenig wie es einen Zeus, einen Apollo oder irgendwelche Einhörner gibt. Wir sind auf uns gestellt und fühlen uns deshalb entweder einsam oder mächtig. Wenn wir auf die Welt kommen, können wir Glück haben oder auch nicht. Es ist ’ne Lotterie: Entweder hat man Pech, oder man hat Dusel. Aber von da an liegt es ganz bei uns. Da oben gibt es niemand, der sich darum schert, ob ich ’ne Schachtel Zigaretten oder ’ne Dose Fleisch

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