Wer hat Angst vor Jasper Jones?
gehört, dass man Grenzen zieht und Gebiete absteckt. Genauso dumm, wie zu glauben, dass sich irgend so ein Kerl mit Rauschebart dafür interessiert, ob sie Geld in einen Klingelsack werfen oder freitags Fisch essen. Das ist alles Quatsch.»
«Du redest von Katholiken?»
«Nicht nur von denen, Charlie. Aber sie gehören dazu, ja.»
Ich denke darüber nach.
«Weißt du, ich glaube, die meisten Leute mögen dieses einsame Gefühl nicht. Es gefällt ihnen nicht, nach oben zu schauen und sich klein und verloren vorzukommen. Und ich denke, genau darum geht es beim Beten. Es spielt keine Rolle, an welche Geschichte sie glauben, sie machen alle das Gleiche: Sie werfen ein Seil in den Weltraum, als ob es dort etwas gibt, mit dem sie Verbindung aufnehmen könnten. Und etwas, das ihnen überlegen ist, schickt ihnen ihre Sorgen als Trost zurück. Es ist, als würden die Leute auf diese Art Teil von etwas werden, das größer ist als sie, und vielleicht haben sie dann weniger Angst.»
«Machst du das auch?» Jasper schaut mich fragend an.
«Ich? Nein. Natürlich nicht. Ich bin ein Staubkorn wie du.»
«Und macht es
dich
traurig?»
«Die Wahrheit zu kennen? Manchmal schon, glaube ich. Es ist ziemlich trostlos, drüber nachzudenken.»
«So ’n leeres Gefühl.»
«Genau. Es muss beruhigend sein, tatsächlich an Gott und Jesus und all den Kram zu glauben. Vielleicht füllt einen das so aus, dass man sich keine Sorgen mehr darüber machen muss. Aber irgendwie ist es auch, als würde man die Tür zumachen, weil es draußen kalt ist und zieht, nicht? Deswegen bleibt es draußen trotzdem weiter kalt, nur merkt man es nicht mehr, weil einem selbst warm ist.»
«Ganz genau», pflichtet Jasper mir bei.
«Ich konnte mit dem Kram noch nie etwas anfangen. Ich habe Stachelbeere zugehört, mir Sachen in der Bibel durchgelesen und so. Aber es gibt zu viele Löcher und Lücken und schwammige Stellen, an denen ich nicht vorbeikomme und über die ich immer wieder nachdenken muss. Ich habe bei der ganzen Sache einfach zu viele Fragen, um ihr wirklich was abgewinnen zu können. Es hat mir nie richtig einleuchten wollen. Manchmal wünsche ich mir wirklich, dass es anders wäre, damit ich mir nicht mehr so klein vorkomme.»
«So schlecht ist das gar nicht, Charlie. Das kannst du mir glauben. Mich haben sie mein Leben lang kleingemacht. Ich bin daran gewöhnt. Aber alles, was sie damit erreicht haben, ist, dass ich die Sachen selbst in die Hand nehmen will, verstehst du? Ich will was Großes tun. Das ist das Gute daran, wenn man nichts zu verlieren hat. Es hat keinen Zweck, den Kopf hängen zu lassen. Und wenn das Hier und Jetzt das Einzige ist, an das du glaubst, dann läufst du auch nicht Gefahr, es zu verschwenden, meinst du nicht?»
«Klingt einleuchtend», sage ich.
Jasper nickt bedächtig. Er hustet, schnickt Asche ins Wasser und fährt fort.
«Was ich auch nie kapiert hab», sagt er, «ist, dass die Leute früher zum Mond hochgesehen und trotzdem geglaubt haben, die Erde wär ’ne Scheibe. ’ne
Scheibe
, Charlie. Genau das meine ich, wenn ich sage, dass sich die Leute immer für den Mittelpunkt von allem halten. Es ging immer nur um das, was sie
sehen
können. Niemand ist auf den Gedanken gekommen, dass sie vielleicht nur ’n kleines Rad in einem großen Getriebe sind, nur einer von Milliarden kleinen Bällen, die durchs All treiben. Alle waren überzeugt, dass sich alles um sie dreht und nicht andersrum. Das ist doch verrückt. Als würden sie in einer von diesen Schneekugeln leben, die man schütteln muss.»
Ich nicke.
«Ja, die kenne ich.»
«Verstehst du, was ich meine?», fragt Jasper.
«Ja, ja, das tue ich. Weißt du, in Indien haben sie geglaubt, die Erde wäre ein großes, flaches Brett auf dem Rücken einer Schildkröte.»
Jasper lächelt. «Schwachsinn.»
«Nein, das mit der Schildkröte stimmt.»
«Quatsch, Charlie. Das glaub ich dir nicht. Du bist besoffen. Eine riesengroße Weltraumschildkröte? Oder was willst du mir einreden?»
Wir lachen beide.
«Ja, genau. Die Erde ist ein riesengroßer Keks, und wir sitzen auf dem Buckel einer Schildkröte und sind auf dem Weg zum Mond.»
«Das ist verrückt.» Jasper schüttelt den Kopf.
«Aber du hast recht. Die Leute haben einfach nur genommen, was sie um sich herum sehen und sich daraus etwas zusammengereimt. Dass sie es verstehen wollten, kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Problematisch wird es erst, wenn man es besser weiß und immer noch daran glaubt,
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