Wer hat Angst vorm bösen Mann?
Leute fragten mich, warum ich ihm nicht in die Hoden getreten habe. Ganz einfach: Er hätte mein Leben ausgeblasen wie eine Kerze.»
Wie andere Entführungsopfer, die Möglichkeiten verstreichen ließen, ihren Schergen zu entkommen, erfuhr Colleen Stan durch die Gerichtsverhandlung eine zweite Viktimisierung. Gefühle von Schuld, Reue, Scham, Verlegenheit, Wut und Erniedrigung blieben. Die Öffentlichkeit erwartet, dass ein Entführungsopfer seinem Folterer ins Gesicht spuckt und sich dafür töten lässt.
«Auch als ich zu Besuch bei meinem Vater war, dachte ich, dass das Haus überwacht und verwanzt war», berichtet Colleen Stan weiter. «Und wenn er mich frei herumlaufen ließ, war ich felsenfest davon überzeugt, dass die Company allgegenwärtig war und mich überall kriegen würde. Warum habe ich diese Lüge geglaubt? Wie konnte ich so dumm sein? Warum war ich ihm dankbar, habe sogar etwas wie Zuneigung für diesen furchtbaren Menschen empfunden? Warum kann ich keinen Hass und keine Rachegelüste entwickeln?»
Ihre Abgestumpftheit, ihre mangelnde Wut war nicht ein Ausdruck für Masochismus, sondern Folge einer Stockholm-Gehirnwäsche. Dass Cameron Hooker sie am Leben ließ, erfüllte Colleen paradoxerweise mit großer Dankbarkeit, auch wenn sie furchtbare Qualen erdulden musste. Erst mit Abstand kann Colleen Stan ihr widersinniges Verhalten erklären.
«Warum habe ich nach meiner Befreiung nicht die Polizei informiert? Ich hatte es Janice versprochen, weil sie fürchtete, dass er ihren Töchtern etwas antun könnte. Janice ist als Kronzeugin völlig straffrei ausgegangen. Nancy Garrido hat dagegen fünfunddreißig Jahre bis lebenslänglich bekommen.» Damit spricht sie die Ehefrau eines anderen Kidnappers an, die ebenfalls ihrem Mann bei der Entführung geholfen hatte (siehe Seite 202 ff.) .
Ich habe nicht den Eindruck, dass Colleen eine besonders leichtgläubige, manipulierbare und abhängige Person ist. Im Gegenteil: Sie wirkt auf mich sehr strukturiert, urteilsfähig und klar. Auch kann ich bei ihren Erzählungen nicht erkennen, dass sie die Geschehnisse anders darstellt, als ich es in den Veröffentlichungen zu ihrem Fall vorher gelesen hatte.
Ich frage Colleen, ob sie Angst hat, wenn Hooker 2023 aus dem Gefängnis entlassen wird.
«Ich habe keine Angst», erklärt sie mit ruhiger Stimme. «Aber: Er hat angedroht, sich an einigen Leuten zu rächen, wenn er freikommt, zum Beispiel an der Staatsanwältin Christine McGuire und an jemandem, der einen unvorteilhaften Fernsehbeitrag über ihn gemacht hat. Vor Gericht hatte er gesagt, er hätte mich besser töten sollen, denn Tote würden keine Zeugenaussagen machen. Er glaubt immer noch nicht, dass er etwas Falsches getan hat. Und er ist ein Mörder. Er hat im Januar 1976 Marliz Spannhake getötet. In meiner Holzkiste fand ich ihren Führerschein. Ich weiß es auch deswegen, weil er all diese Foltermethoden schon vorher ausprobiert haben muss. Das sah alles so eingeübt, so methodisch aus.» Nach einer kurzen Pause fährt sie fort: «Und ich weiß definitiv, dass er ein Mörder ist, Doktor Bandelow. Ich muss Ihnen noch eine Begebenheit erzählen.»
Und sie erzählt mir jetzt eine Geschichte, die wohl nur wenige Leute kennen.
«Mein Stiefbruder hatte ein Drogenproblem und kam deswegen einmal in dasselbe Gefängnis wie Hooker, nämlich ins Folsom State Prison. Mein Stiefbruder ist ein großer Kerl, und als er auf Hooker traf, schlug er ihn zusammen. Hinterher war der schwer verletzt. ‹Das war für meine Schwester›, schrie mein Bruder ihm nach.
‹Das hättest du nicht tun sollen›, sagte dann ein anderer Gefangener zu ihm, ‹Hooker bringt dich dafür um, er ist ein eiskalter Mörder.› Und er berichtete ihm Folgendes: Als man Hooker in einen Teil des Gefängnisses verlegte, der von einer bestimmten Gang kontrolliert wurde, machte man ihm klar, dass er dort unerwünscht sei. Wenn er überleben wolle, müsse er der Bande ‹Miete› zahlen. Und außerdem müsse er in ihrem Auftrag Morde ausführen. Wann immer ein neuer Kinderschänder in die Abteilung verlegt wurde, habe Hooker den Auftrag bekommen, diesen zu töten. Und das habe er in mehreren Fällen gemacht. Diese Morde seien nie mit ihm in Verbindung gebracht worden, denn Kinderschänder leben nie lange im Folsom State Prison. Niemand habe deshalb große Mühen auf sich genommen, die Vorfälle zu untersuchen, um den Mörder dieser Menschen zu finden. Meinem Stiefbruder ist übrigens nichts
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