Wer hat Angst vorm bösen Mann?
wohnungslosen Straßenprediger Brian Mitchell und seiner Ehefrau Wanda Barzee aus dem Elternhaus in einen abgelegenen Canyon entführt worden. Mitchell hielt sich für eine Art Messias und rechtfertigte alle seine Missetaten damit, dass er von Gott erleuchtet sei. Elizabeth wurde mit einem Kabel an einen Baum angebunden und drei- bis viermal am Tag vergewaltigt. Sie musste mit ihm pornographische Filme ansehen. Oft ließ er sie hungern. Er zwang sie immer wieder, Alkohol zu trinken. Als sie sich dabei einmal erbrechen musste, zwang er sie, eine Nacht lang mit dem Gesicht in ihrem Erbrochenen zu liegen. Als Mitchell einmal wegen eines Einbruchs ein paar Tage im Gefängnis verbringen musste, wurde Elizabeth von Wanda bewacht.
Elizabeth ließ viele Gelegenheiten verstreichen, die Geiselnahme aufzudecken. Mehrfach war die «Familie» in Salt Lake City unterwegs, und die drei gingen sogar auf Partys – wobei Elizabeth stets ihren Schleier vor dem Gesicht tragen musste –, ohne dass sie jemanden um Hilfe bat. Auch bei der Begegnung in der Bibliothek schaffte sie es in dreißig Minuten nicht, sich Detective Richey zu erkennen zu geben. Bei anderen Anlässen versuchte Elizabeth ähnlich nicht zu fliehen. Das Paar nahm sie mit in Restaurants, sogar auf eine Busreise. Mitchell wollte in den wärmeren Süden fahren, nach San Diego, um sich dort ein zweites Opfer für seine Sexorgien zu suchen.
Erst nach neun Monaten erinnerte sich die kleine Schwester von Elizabeth, die Zeugin der Entführung gewesen war, an den Namen eines Mannes, den sie kannte und der dem Täter ähnlich sah. Mitchell wurde daraufhin zur Fahndung ausgeschrieben. Ein Fahrradfahrer erkannte ihn in einem Vorort von Salt Lake City. Als die Polizei Elizabeth Smart schließlich aufspürte und befragte, behauptete sie zunächst, sie sei schon achtzehn und eine von Mitchells mehreren Frauen, unter Mormonen nichts Ungewöhnliches. Erst als ihr die Cops ein Foto vorlegten, auf dem sie vor ihrer Entführung zu sehen war, gab sie nach einigem Zögern zu, Elizabeth Smart zu sein.
Elizabeth Smart (im Hintergrund ihre Schwester Mary)
Schon Babynamen ausgedacht
Das Stockholm-Syndrom zeigte sich bei ihr, wenn überhaupt, nur in minimaler Ausprägung. Dass sie Fluchtmöglichkeiten nicht ausnutzte, führte sie auf die übergroße Angst zurück, die der Täter bei ihr erzeugt hatte. Das hübsche und intelligente junge Mädchen sagte im Gericht sehr präzise gegen ihren Peiniger aus und berichtete über die unaussprechlichen Dinge, die ihr während der Geiselnahme widerfahren waren, ohne Anzeichen einer seelischen Belastung. Einzig die Mutter brach im Gericht zusammen, als sie die Aussage ihrer Tochter mit anhören musste. Elizabeth sprach davon, dass sie sich schon Babynamen ausgedacht hatte, als sie vermutete, sie sei durch die Vergewaltigungen schwanger geworden. «Seine eigene Person war für ihn die Nummer eins, die höchste Priorität, gefolgt von Sex, Drogen und Alkohol. Er rechtfertigte alles mit seiner Religion», stellte das Entführungsopfer Elizabeth Smart klar. [141]
Mitchell versuchte sich vor Gericht als psychisch schwer krank und schuldunfähig darzustellen. Nach mehreren Gutachten befand man, dass er zwar eine antisoziale und narzisstische Persönlichkeitsstörung habe, aber voll schuldfähig sei. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, Wanda Barzee zu fünfzehn Jahren.
Elizabeth Smart heiratete 2012 in Hawaii einen Schotten.
Kein Akt der Menschlichkeit
Nicht jeder, der Opfer einer Geiselnahme wird, bekommt ein Stockholm-Syndrom. Über dessen Häufigkeit gibt es ganz unterschiedliche Angaben. Nach einer großen FBI -Studie, in der über 1200 Geiseln erfasst wurden, zeigt sich dieses sonderbare Phänomen nur bei fünf Prozent aller Entführten. [142] Psychiater tun sich schwer, plausible Erklärungen für das Stockholm-Syndrom zu finden. Dennoch ist zu fragen: Wie kam es nun in diesen hier geschilderten speziellen Fällen zu der für uns nicht nachvollziehbaren Hörigkeit?
Alle weisen Gemeinsamkeiten auf. Die Täter missbrauchten ihre Opfer sexuell, quälten und folterten sie, ließen sie frieren oder hungern, sperrten sie auf engstem Raum ein und ließen sie in den übelsten hygienischen Verhältnissen vegetieren. Aber sie behandelten ihre Geiseln an irgendeinem Punkt auch auf eine gewisse Weise freundlich, zum Beispiel, indem sie ihnen Essen gaben. Natürlich war dies dann kein Akt der Menschlichkeit, sondern reiner Selbstzweck – denn am
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