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Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Titel: Wer hat Angst vorm boesen Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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abgeschossene Pfeil steckte in Errkis rechtem Oberschenkel. Es tat nicht weh. Er packte den Hosenstoff und biß die Zähne zusammen. Ziemlich leicht glitt der Pfeil heraus. Zugleich schien etwas nachzugeben, wie eine feste Klammer, die plötzlich geöffnet wird. Der Junge drehte sich um und rannte los.
    Errki tat etwas, was er seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Er rannte hinterher. Heißes Blut strömte ihm über den Oberschenkel. Kannick rang um Atem, aber sein Mund blieb stumm. Er jagte weiter. Nach einer Weile ließ er den Bogen fallen, was er niemals für möglich gehalten hätte, aber der Bogen hielt ihn auf, und die schwarze Gestalt, die Errki Johrma war, war hinter ihm her. Als ihm der Ernst der Lage aufging, schwand seine Kraft, und er fühlte sich leer. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren, stolperte über Zweige und Gestrüpp und dachte, wenn ich jetzt stürze, bin ich verloren. Er rannte um sein Leben, er wollte nach Hause, nach Guttebakken. Nach Haus zu Margunn und den anderen, zu dem sicheren Alltag in dem häßlichen Haus, zu Philip, der schnaufend im Nachbarbett lag. Nach Haus zu Christian, zu dem Traum, bei der norwegischen Meisterschaft alle anderen zu schlagen, nach Hause zum Abendessen, zum flimmernden Fernseher, zu sauberer Bettwäsche alle zwei Wochen. Er liebte das Leben plötzlich so sehr, er wollte darum kämpfen, und dieses Gefühl war schwindelerregend und ganz neu für ihn.
    Und dann stolperte er. Fiel der Länge nach, mit der Stirn zuerst, ins trockene Gras. Er gab nicht auf, er kämpfte noch immer, er brauchte etwas, womit er sich verteidigen konnte, er wollte seinen Verfolger töten, ehe der Verfolger ihn tötete. Er suchte nach einem Stock, fand aber nur trockene Zweige, es gab nicht einmal einen Stein, den er hätte werfen können. Erschöpft sah er sein Leben vergehen, vor seinen Augen zerfallen. Er gab auf. Rollte sich zu einem Ball zusammen und blieb liegen. Er hatte nie damit gerechnet, so jung sterben zu müssen. Seine letzten Kräfte wandte er auf, um sich darauf vorzubereiten. Errkis Schritte kamen näher. Endlich stoppten sie neben ihm. Errki war verrückt. Er würde sich nicht so verhalten, wie andere das getan hätten. Das war das Schlimmste für Kannick: nicht zu wissen, was ihn erwartete. All die Geschichten, die er über Errki gehört hatte, wirbelten durch seinen Kopf.
    »Wer den Wolf fürchtet, sollte nicht in den Wald gehen«, flüsterte Errki.
    Kannick hörte die leise Stimme. Er blieb stocksteif liegen, er war ja schon so gut wie tot. Mehr war nicht zu sagen. Dann bewegte er doch vorsichtig den Kopf und sah einen Zipfel von Errkis gewaltig weitem Hosenbein. Die Wunde schien Errki nichts auszumachen. Noch ein Beweis dafür, daß er verrückt war. Bestimmt spürte er überhaupt keine Schmerzen, nicht die eigenen und die von anderen schon gar nicht. Er war gefühllos. Verrückt sein, dachte Kannick, bedeutet, allem gegenüber gefühllos zu sein.
    »Steh auf.«
    Der Ton war nicht drohend, sondern eher ein wenig verwundert. Mühsam kam Kannick auf die Beine. Den Kopf hielt er weiterhin gesenkt. Bald würde er eine Ohrfeige einstecken müssen, er wollte das Ärgste mit Stirn und Schläfe auffangen. Flache Ohrfeigen gegen die fette Wange fand er unerträglich. Das Klatschen war so demütigend. Aber es passierte nichts.
    »Los, zum Haus«, sagte Errki nur.
    Daß er die Stimme nicht hob, wirkte bedrohlich. So sprach ein Sadist, einer, der gern quälte und plagte. Die Stimme war so hell und leise, sie paßte nicht zu der sonstigen Erscheinung, und aus nächster Nähe sah Errki einfach gruselig aus. Vor allem seine Augen, die Kannick nicht anzusehen wagte, das schob er vor sich her, denn er glaubte, es werde sein Verderben besiegeln.
    Zum Haus. Er hatte sich in dem alten Haus versteckt, war die ganze Zeit dort gewesen. Er war gar nicht in Schweden, wie es im Radio geheißen hatte. Zusammen mit Errki das alte Haus zu betreten war wie eine Wanderung ins Totenreich. So kam es Kannick vor. Niemand würde ihn hören, wenn er dort drinnen um Hilfe schrie. Er begann schrecklich zu zittern. Nun kam also doch die Strafe für alles, was er getan hatte.
    Wenn du dich nicht zusammenreißt, Kannick, dann weiß ich wirklich nicht, was aus dir werden soll.
    Die Zukunft, um die er sich nie sonderlich gesorgt hatte, holte ihn nicht nur ein, sie verschwand ganz einfach. Vielleicht würde er in Schmerzen sterben müssen. Das einzige, wovor Kannick sich wirklich fürchtete, waren Schmerzen.

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