Wer hat Angst vorm starken Mann? - Mallery, S: Wer hat Angst vorm starken Mann?
Nicole haben mir beigebracht, das Richtige zu tun. Wie nennt man das? Sie sind sozusagen mein Gewissen, die Stimme in meinem Kopf, die mir sagt, was ich als Nächstes tun soll. Ich möchte sie nicht enttäuschen.“
„Sie sind deine Familie“, meinte Pia wehmütig. „Das ist nett.“
Er erinnerte sich, dass sie kaum Familie besaß. Einen verstorbenen Vater und eine Mutter mit den mütterlichen Instinkten eines Insekts. Wenn sie die Kinder bekommt, dachte er, wird sie Wurzeln schlagen und eine Familie haben. Aber er würde wetten, dass sie das noch nicht bedacht hatte. Pia würde sich dazu entschließen, die Embryonen auszutragen, weil sie es für richtig hielt. Sie brauchte kein gutes Vorbild – sie wusste es einfach.
Jetzt schob sie den Salat zur Seite und holte eine Mappe aus ihrer großen Handtasche. „Iss“, sagte sie zu ihm. „Ich erzähl dir, was ich mir ausgedacht habe, und während du kaust, kannst du dir schon mal überlegen, aus welchen Gründen du mir sagen willst, wie brillant ich bin.“
„Ich mag Frauen mit einem Plan.“Pia schaute auf ihre Uhr und stellte erstaunt fest, dass es schon kurz nach zwei war. „Himmel. Ich habe um drei einen Termin und muss los“, sagte sie und öffnete ihr Portemonnaie, um ein paar Scheine herauszuholen.
„Du wirst nicht mein Essen bezahlen“, erklärte Raoul und griff nach der Rechnung.
„Aber du hast gesagt …“
„Das war ein Scherz.“
„Bist du zu sehr Macho, als dass du eine Frau für dein Essen bezahlen lässt?“
„So was in der Art.“
Er legte das Geld auf die Rechnung, stand auf und kam zu Pia. Beim Hinausgehen legte er eine Hand auf ihren Rücken.
Pia war sich jeden Millimeters seiner Hand bewusst. Durch ihren Pullover, der sich zwar wie Cashmere anfühlte, aber leider nicht echt war, konnte sie die Wärme seiner Finger und den leichten Druck spüren.
Auf dem Bürgersteig drehte Pia sich zu Raoul herum. „Ich schicke dir eine Liste mit den Deadlines“, sagte sie. „Ich denke, die Mitwirkung an einigen Festivals wird sich positiv auf das Camp auswirken.“
Pia merkte, dass sie vor sich hin plapperte, wobei sie es vermied, Raoul direkt anzuschauen. Was war nur los mit ihr? Dies hier war doch keine Verabredung. Sie standen nicht vor ihrer Haustür, und sie musste auch nicht überlegen, ob sie ihn noch zu sich rauf bitten sollte. Sie waren lediglich zu einem Geschäftsessen verabredet gewesen.
„Danke für deine Hilfe“, sagte er.
Sie holte tief Luft, straffte die Schultern und schaute ihm in die Augen. „Gern geschehen. Weißt du, Robert, der ehemalige Leiter des Finanzressorts, war auch so ein netter Kerl, dem niemand etwas Böses zugetraut hat. Bis herauskam, dass er Millionen unterschlagen hat.“
„Willst du damit andeuten, ich sei ein Dieb?“ Er klang eher amüsiert als beleidigt.
„Nein, das nicht gerade. Aber was wissen wir schon über dich? Die Leute sollten mehr Fragen stellen.“
„Du denkst zu viel“, erklärte er.
„Ich weiß, das kommt wohl daher, weil es so wenig Ablenkung in meinem Leben gibt.“
„Wie wäre es hiermit?“, fragte er, bevor er sich vorbeugte und sie küsste.
Es war nur eine flüchtige Berührung – seine Lippen streiften ihre nur. Kaum der Rede wert.
Allerdings verfiel Pia in eine Art Schockstarre. Die Finger, mit denen sie ihre Handtasche hielt, umklammerten den Riemen wie in einem Todesgriff. Ehe Pia sich jedoch überlegen konnte, was sie tun sollte, hatte Raoul sich schon wieder aufgerichtet.
„Vielen Dank für das Essen“, sagte er, drehte sich um und schlenderte davon.
Und ließ Pia nach Luft schnappend und sehr, sehr verwirrt zurück.
Raoul drehte sich vom Spiegel weg, während er langsam die Hantel in seiner Hand hob und senkte. Er trainierte lange genug, sodass er weder seine Form noch seine Schnelligkeit überprüfen musste. Die Bewegungen waren automatisiert. Anders als einige andere Typen war er nicht versessen darauf, sich im Spiegel zu bewundern.
Neben ihm trainierte Josh Golden seinen Trizeps. Beide Männer waren schweißgebadet und atmeten schwer. Es war ein höllisches Workout gewesen.
„Nur damit das klar ist“, meinte Josh, als er das Gewicht auf die Bank vor sich senkte. „Ich bin der einzige Held hier in der Stadt.“
Raoul grinste. „Bist du in Sorge, alter Mann? Oder sollte ich sagen, hast du Angst?“
„Ich bin schon viel länger hier als du. Die Stadt verehrt mich schon sehr lange. Du bist nur ein Newcomer. Die Frage ist,wirst du es überhaupt
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