Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)
gegeben hatte. Lediglich Sachschäden in zig millionenfacher Höhe, Traumata, Angst. Das Übliche.
Und dann natürlich die Putzfrau, deren abgetrennte Hand Kai van Harm auf der Suche nach dem Handy unfreiwillig geborgen hatte. Allerdings tauchte diese Angelegenheit in keinem der Berichte auf, nicht in den Pressekonferenzen und nicht in den semioffiziellen Interviews, die die Vertreter von Staatsanwaltschaft und Polizei auf den Fluren und vor den Pforten ihrer Behörden gaben. Lediglich der Beamte, dem van Harm am Nachmittag jenes verheerenden Januartags auf dem Kommissariat (der Wache, dem Präsidium, wie immer das verdammte Gebäude hieß, in das man ihn bestellt hatte) seine Aussage in den Rekorder sprach, hatte jene Person kurz erwähnt, deren Gliedmaße van Harm gefunden hatte. Doch erstaunlicherweise hatte er weder Namen noch Alter oder Nationalität erwähnt, sondern lediglich den Beruf des Opfers: Reinigungskraft. Und er hatte gesagt, dass sie zu einer Brigade gehörte, die zweimal wöchentlich die Redaktionsräume saugte, wischte und vom Staub befreite. In den späten Abendstunden, nach Büroschluss.
Gleichzeitig hatte der Polizist ihn gebeten, Stillschweigen über die Tote zu wahren, um nicht die laufenden Ermittlungen zu gefährden. Eine Aufforderung, an die sich van Harm gehalten hatte, nicht zuletzt, weil er die dazugehörige Formulierung aus den Fernsehkrimis kannte, die er hin und wieder konsumierte, wenn er am Abend zu müde war, um ein gutes Buch zu lesen oder sich auf eines der grandiosen Alben des mittleren John Coltrane zu konzentrieren. Wie diese Ermittlungen allerdings aussahen oder in welche Richtung sie gingen, hatte man ihm ohnehin nicht mitgeteilt. Auch nicht, was die Geheimniskrämerei sollte, so dass van Harm im Grunde gar nicht fähig war, mehr auszuplappern als die pure Tatsache, dass er die Hand überhaupt gefunden hatte. Dennoch machte ihm die eigentlich harmlose Bitte für ein paar Tage schlechte Laune, denn sie unterstellte ihm entweder Tratschsucht oder Geltungsdrang. Beides Dinge, mit denen er lieber nicht in Verbindung gebracht werden wollte. Nicht mal seinen Kindern hatte er also von der Hand der Putzfrau erzählt, denn er ahnte, dass sie sich trotz einer sensationellen und vor allem auch exklusiven Nachricht wie dieser kaum zu einem müden Lächeln aufraffen würden. Wie zur Bestätigung seines Verdachtes, die Familie ignoriere seine Sorgen und Nöte mit einer Beharrlichkeit, die an Vorsatz grenzte, hatte Constanze dann auch nur mit den Schultern gezuckt, nachdem er immerhin sie in das Geheimnis eingeweiht und gleich darauf ermahnt hatte, wie wichtig es sei, darüber Stillschweigen zu wahren.
Natürlich hatte er auch in den diversen Interviews, die er in den folgenden Tagen den Kollegen von Presse, Fernsehen, Funk und Internet gab, die Tote nicht erwähnt oder gar Spekulationen über sie angestellt. Und es waren in der Tat viele Interviews gewesen. Als einer der ersten Augenzeugen und obendrein Anschlagsopfer, in dessen Büro, wenn nicht gar unter dessen Schreibtisch, die Bombe platziert gewesen sein musste, war er gefragt gewesen wie nie zuvor in seiner beruflichen Laufbahn.
Am elften Tag nach dem Wumms von Kreuzberg kollidierte auf der Strecke Hannover-Berlin ein ICE mit zweihundert Stundenkilometern mit dem Regionalbahnzug eines privaten Konkurrenten, der auf demselben Gleis in der Gegenrichtung unterwegs war. Das Unglück, das sich gottlob in den frühesten Morgenstunden ereignete, noch vor Beginn des eigentlichen Berufsverkehrs, forderte deutlich weniger Opfer, als sie vermutlich nur wenige Stunden später zu beklagen gewesen wären. Doch auch die achtzehn Toten, die Dutzenden Verletzten und das Chaos, das der verwüstete Streckenabschnitt im Fahrplan der Bahn anrichtete, genügten, eine allumfassende Diskussion anzuzetteln, bei der sich die extremistischen Betriebswirtschaftler der Wirtschaftsverbände samt angeschlossener PR-Kohorten tagtäglich verbale Scharmützel mit Gewerkschaftern, Verbraucherschützern und zornesroten Bahnkunden lieferten. Es ging um Börsengang, Personalabbau, Wartungsintervalle und Materialermüdung. Und es ging angeblich auch, wie ein von Publikum und Gastgeberin gleichermaßen belächelter, langhaariger, krypto-kommunistischer Radikalökologe in der bekanntesten Sonntagabend-Quassel-Show des Landes es ausgedrückt hatte, um den Terror der Effizienz und seine mittelbaren tödlichen Folgen.
Der Kreuzberger Wumms war also, keine zwei Wochen
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