Wer ist eigentlich Paul?
blicken. «Halt die Klappe», knurre ich dem Teufelchen zu und hoffe, dass es nicht – wie so oft – Recht behalten wird.
DIENSTAG, 11. FEBRUAR 2003 – DER FILM DES LEBENS
Eigentlich schade, dass das Leben nicht ein bisschen mehr wie Kino ist. Mehr Dramatik, mehr Spannung. Mehr Gute, die gewinnen, und mehr Böse, die verlieren. Mehr Liebe und Romantik, mehr glückliche Zufälle, mehr segensreiche Wendungen, mehr schlüssige Storys, mehr Happy Ends.
Wobei ich persönlich ja Happy Ends nicht mag. Ich glaube nämlich nicht an Happy Ends. Der Haken an Happy Ends und warum ich ihnen höchst misstrauisch gegenüberstehe: Im Kino funktionieren sie, weil der Film nach ihnen vorbei ist. Der Abspann läuft, die Zuschauer knüllen die leeren Popcorn-Tüten zusammen und lassen sie unter die Sitze rollen, stolpern beim Vorbeidrängeln über die Füße der noch sitzen bleibenden Nachbarn und zünden sich draußen erst mal eine Zigarette an. Was im Film weiter passiert wäre, existiert und interessiert nicht. Und anscheinend denkt niemand außer mir auch nur darüber nach.
Während die meisten (Frauen), die ich kenne, das Ende von «Pretty Woman» lieben, kann ich diesen Filmschluss einfach nicht aus vollem Herzen rührungsvoll beweinen. Denn was passiert, wenn Richard Gere Julia Roberts in der Stretch-Limousine abgeholt hat und mit ihr davonfährt? Wird sie ihn schon hundert Meilen weiter annölen, weil sie aufs Klo muss, und er sagt: «Schatz, reiß dich bitte ein klein wenig zusammen, in einer Stunde müssen wir sowieso tanken!»? Und auch wenn das Pinkelpausenproblem ihnen nicht die frische Liebe vergällt – wird diese Liebe Bestand haben, oder werden die beiden sich wieder trennen? Und falls sie sich nicht trennen – wird er irgendwann in Jogginghose und Feinrippunterhemd vor dem Fernseher lümmeln, neben dem Sessel eine zusammengeknüllte McDonald’s-Tüte, während sie, die gealterte Julia Roberts alias Vivian, ehemalige Nutte, mit Meeresalgenmaske im Gesicht auf dem Sofaliegt und von alten Zeiten träumt? Okay, gut, ich gebe die Ansammlung platter Klischees zu, aber ist doch wahr, oder?
Besseres Beispiel für ein gutes Filmende: «Titanic». Ich liebe die Titanic-Liebesgeschichte. Sie ist einfach vollkommen. Vor allem, weil – ja genau, weil Rose und Jack sich am Ende nicht kriegen. Weil er nur in ihrer Erinnerung weiterlebt, weil sie später einen anderen heiratet und mit ihm glücklich wird. Ohne Jack jemals zu vergessen, versteht sich. «Das Herz einer Frau ist ein Ozean voller Geheimnisse.» Hach. Ich muss mich nicht fragen, ob das verwöhnte Gör und der bettelarme Lebenskünstler wirklich zusammengepasst hätten, ob ihre Lovestory, die so grandios begann, die anfängliche verrückte Verliebtheit überlebt hätte.
Ich muss gleich mal «My Heart Will Go On» einlegen. Schon lange nicht mehr gehört.
Da fällt mir etwas ein, was meine Freundin Jenny aus Krefeld mal gesagt hat: «Schade, dass es zum Leben keinen Soundtrack gibt.» In der Tat sehr schade. Wäre das nicht toll? In diesem wunderbaren Moment letzten Sommer, als Paul über den Biertisch griff, meinen Nacken umfasste und mich minutenlang küsste – in diesem Moment hätten die Geigen eingesetzt, und es wäre, natürlich, Beethovens Neunte, vierter Satz, Finale, erklungen. Der Satz dauert 23 Minuten, in der Aufnahme mit Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern. Es wäre die längste Kuss-Sequenz der Filmgeschichte geworden.
Oder dieser Augenblick, in dem die unselige SMS von Paul mich erreichte: «Bin in Wien und im Stress.» Hätte das Leben einen Soundtrack – «Jetzt ist gut» von Such a Surge hätte wunderbar gepasst.
Stattdessen herrschte nur Stille.
Gäbe es einen Lebens-Soundtrack, würden sich gefährliche Situationen durch ein unheilvolles, dissonantes Geigen-Crescendo ankündigen, statt einfach unangemeldet und überraschend in unseren Alltag zu platzen. Das Leben wäre einfacher, intensiver,romantischer und irgendwie weniger banal als ohne Musikbegleitung. Vielleicht könnte man im Plattenladen Sampler mit Lebens-Soundtracks berühmter Persönlichkeiten kaufen. Ich bin zwar keine berühmte Persönlichkeit, aber ich bin mir sicher, dass in meiner Filmmusik Coldplay vorkommen würde – und natürlich die Neunte von Beethoven.
DONNERSTAG, 20. FEBRUAR 2003 – D-DAY (P-DAY)
Sechs Uhr früh. Das schwarze Gartenhuhn, das ich wirklich gerne mal erschießen würde, sitzt im Baum vor meinem Fenster und übt für
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