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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
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nicht«, sagt Lewadski, »ich hoffe nicht, Herr Witzturn, wir kennen ihn, und das soll zählen.«
    »Ihre Cocktails, die Herren.« Lewadski ist begeistert.
    »Schön haben Sie den fliegenden Holländer präpariert!«
    »Er hat die Musik gekannt«, sagt Herr Witzturn und trinkt, ohne Lewadski in die Augen zu schauen, »mein Klavierlehrer.«
    »Er kennt die Musik immer noch«, versichert Lewadski nach einer längeren Pause. »Nun ist er kein Medium mehr für sie, sondern sie selbst.«
    »Sie sind ein Poet«, versucht Herr Witzturn zu scherzen. Die Seele eines schüchternen Rüden bellt aus ihm heraus. »Wahrscheinlich haben Sie sogar recht. Schließlich war mein Klavierlehrer ein Skrjabinist. Kennen Sie Skrjabin? Skrjabins Sehnsucht war nicht nur die Verschmelzung mit der Musik, sondern auch das Verschmelzen der Musik mit allen Sinnen. Kennen Sie Skrjabin?«
    Lewadski nickt. Ein Verlangen kitzelt seinen Rachen, dasVerlangen, leise, ganz leise und unaufdringlich zu bellen. Auch Skrjabin ist tot.
    »Einmalig war auch seine Idee von der absoluten Musik. Skrjabin arbeitete an einer Komposition, die er programmatisch Mysterium nannte. Hier sollten alle Künste zu einem riesigen Gesamtkunstwerk verschmelzen: Musik, Stimme, Gesang, Tanz, Farben, Düfte ... Die Aufführung dieser Komposition sollte in Indien stattfinden und alles in den Schatten stellen, was die opulentesten Opern je zu bieten gehabt hatten. Verstehen Sie, was es heißt, ein Skrjabin zu sein?«, fragt Herr Witzturn, »ein Skrjabinist zu sein? Das war mein Klavierlehrer.«
    »Ein unergründliches Geheimnis«, raunt Lewadski und versucht, einen Eiswürfel im Glas mit dem Rührstab aufzuspießen.
    »Mindestens zwei Dinge an Skrjabins Musik sind absolut außergewöhnlich«, erzählt Herr Witzturn weiter. »Er begann als eine Art russischer Chopin und gelangte in mächtigen Schritten, ohne zu rennen oder zu stolpern, an die Grenzen der Tonalität.«
    »An die Grenzen der Tonalität«, wiederholt Lewadski und rührt schneller in seinem Glas.
    »Skrjabin«, fährt Herr Witzturn fort, »verabschiedete sich nie vollständig vom romantischen Musik- und Klangideal, durchbrach aber dennoch viele metrische, formale und harmonische Konventionen. Das hat etwas zu bedeuten, nicht wahr. Konventionen!« Herr Witzturn fuchtelt mit der Hand, die sich nicht entscheiden kann: Soll sie sich zur Faust ballen oder nicht?
    »Meine Mutter«, erzählt Lewadski, »meine Mutter war mein Klavierlehrer, wenn man so sagen darf. Frauen machen gerne Musik und Theater.«
    »Sie sind Musik«, schmunzelt Herr Witzturn in sein Glas. Lewadski lächelt verschämt durch den Eiswürfel hindurch, den er zwischen zwei Trinkhalme geklemmt hat.
    »Es ist nur logisch, dass Kinder nach ihren Eltern sterben. Alles, was einem als Kind lachhaft oder unnötig erscheint, nimmt man am Ende doch noch ernst und wichtig – durch den Zauber des Todes.«
    »Ein Zauber?« Herr Witzturn hebt eine Augenbraue. »Sehr poetisch ...«
    »Ja, ein Zauber, er wirft ein gnadenloses Licht auf die Dinge, die sich in das Leben der Zurückgebliebenen einschleichen sollen und wollen«, sagt Lewadski. Seine Trinkhalme zittern, und der Eiswürfel versinkt in den Cocktail-Fluten. »Meine Mutter war mein Klavierlehrer«, sagt Lewadski, während er in der Kuhle eines Eiswürfels herumstochert. »Das Geklimper war mir, solange sie lebte, lästig. Ihr abwesendes Gesicht, das gleichzeitig über dem Klavier und allen Wolken schwebte und schwitzte, es machte mir sogar Angst. Auch jetzt kann ich den Musikern in ihrer Ekstase nicht ohne Grauen zuschauen.«
    »Natürlich, es weht Ihnen jene Leere entgegen, die die Musiker schauen. Die Leere macht Ihnen Angst«, kommentiert Herr Witzturn.
    »Ganz genau, oder der Tod, der voller Versprechen ist. Werden sie sich erfüllen, werden sie sich nicht erfüllen? Auch meine Mutter schien beim Musizieren gleichzeitig zu verwesen, zu brennen, zu Molekülen zu zerfallen. Wie soll einem da nicht bange sein? Wissen Sie, sie hat mir etwas Schönes mit auf den Weg gegeben, etwas, das ich damals als Bub nicht beachtet habe. Eine Lehre! Etwas in mir hat den Moment konserviert und auf einen Podest gestellt. Auf diesem Podest sollte ihre Lehre ruhen, die sie mir insgeheim erteilt hatte. Wollen Sie wissen, worin diese Lehre bestand?« Wehe, wenner nein sagt, denkt Lewadski. Tiefer könnte er mich nicht verletzen.
    Herr Witzturn nickt.
    »Heißt das ja oder nein?«
    »Mit Ihnen fühle ich mich in meine Jugend

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