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»Wer lacht, hat noch Reserven«

»Wer lacht, hat noch Reserven«

Titel: »Wer lacht, hat noch Reserven« Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Schultz
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Krach in Musik verwandelt
    Seine Macht zeigt der Dirigent schon zu Konzertbeginn. Er steigt aufs Podium, während unten im Orchestergraben die Streicher ihre Violinen und Celli stimmen, während die Bläser ihre Posaunen und Tuben auf Raumtemperatur pusten.

    Der Dirigent tippt mit dem Taktstock aufs Pult, und wie von Zauberhand verwandelt sich Krach in Musik: Das kakofonische Gefiedel und Getröte weicht dem ersten geordneten Ton der Symphonie.
    »Als Dirigent spürt man in diesem Moment, wie verführerisch Macht ist«, sagt Talgam. »Fast könnte ich mir einbilden, ich bin es, der die Symphonie erzeugt. Die Musiker sind meine Instrumente, und die Partitur stammt von meinem Zuarbeiter Ludwig van Beethoven.«
    Das Konzert aber ist freilich das Erzeugnis vieler Menschen. Der Job des Maestros ist es nun, die Symphonie zu interpretieren. Er muss eine musikalische Vision haben – und diese an sein Personal, die Musiker, weitergeben, damit sie sie zum Leben erwecken. Das Produkt, die Musik, braucht sodann eine Kundschaft: Ohne Publikum würde die Symphonie ungehört verhallen.
    Schafft es der Dirigent, seine Vision im Konzertsaal zum Leben zu erwecken, wird er beklatscht, bejubelt, mit Blumen überschüttet. Das »Da capo« ist die Messlatte seines Erfolgs, ähnlich wie die Gewinn- und Umsatzzahlen oder der Aktienkurs bei Wirtschaftsbossen.
    »Die großen Maestros kommen durch ganz unterschiedliche Dirigierstile ans Ziel«, sagt Talgam. »Wer sie beobachtet, lernt viel über die hohe Kunst der Menschenführung.« Drei Beispiele:
Ricardo Muti. Der Zu-Mächtige entmachtet sich selbst
    Der Neapolitaner Ricardo Muti hat im Laufe seiner Karriere viele renommierte Orchester dirigiert, unter anderem das New Philharmonia Orchestra London, das Philadelphia Orchestra und das Mailänder Opernhaus La Scala. 2010 wird Muti Chefdirigent am Chicago Symphony Orchestra.
    Steht er auf dem Podium, herrscht im Orchestergraben law and order: Mit einem Handkantenschlag befiehlt Muti den Musikern zu schweigen. In der Stille aber bebt seine Hand weiter, als würde er die Musiker würgen, als zeigte er ihnen die Konsequenzen, die ihnen drohten, wenn sie ihm nicht bedingungslos folgten.
    Selbst heitere Rossini-Opern dirigiert Muti mit sinistrem Gesichtsausdruck. Es gibt dafür einen fast religiösen Hintergrund: Der Maestro glaubt, dass ihm, während er das Orchester führt, der Komponist aus dem Himmel Befehle gibt. Strikt hält er sich an die Partitur, lässt keinen Raum für Interpretation. Er ist wie ein Diktator, zu dem die Toten sprechen.
    »Mutis Autorität ist unanzweifelbar«, sagt Talgam. »Doch sein Orchester ist unglücklich.« Auf seinen Konzerten blickt man in versteinerte, teils eingeschüchterte Musikermienen. Auch das Publikum wirke angespannt.
    Stets habe Muti die volle Kontrolle, und doch hat sich der Zu-Mächtige schon einmal selbst entmachtet: An der mailändischen Oper La Scala forderten 700 Orchestermusiker Muti in einem Brief auf zurückzutreten. »Maestro, du benutzt uns als Instrumente«, klagten sie. »Wir können uns künstlerisch nicht weiterentwickeln.«
    Muti folgte dem Ruf der Putschisten. Er dankte ab.
Carlos Kleiber. Der Raum-Geber
    Carlos Kleiber wurde als Sohn des österreichischen Dirigenten Erich Kleiber und einer Amerikanerin in Berlin geboren. Er wuchs in Buenos Aires auf. Seine Orchester dirigierte Kleiber wie ein Bildhauer, der eine vierdimensionale Büste meißelt.
    Niemand kommunizierte die eigene musikalische Vision so physisch wie er. Und in seinen Visionen war Kleiber Gott: Er schuf beim Dirigieren einen Interpretationsraum, durch den sich Musiker und Publikum mit ihm bewegten – und dessen Naturgesetze er nach Belieben ändern konnte.
    Kleiber gab keine direkten Anweisungen. Trotzdem wurde der Klang einer Oboe plötzlich schwerelos, wenn er die Augen gen Himmel verdrehte. Ließ er den Taktstock in Richtung Parkett sausen, schrien Posaunen wie tollwütige Elefanten.
    »Direkt kann man Kleibers Befehle nicht deuten«, sagt Talgam. »Wenn er den Taktstock zu zerschmettern droht, befiehlt er den Musikern ja nicht: Seid wie Mick Jagger, zerstört eure Instrumente!« Statt Anweisungen zu geben, verkörperte Kleiber die Musik – und überließ es den Musikern, sie operativ auf ihren Instrumenten umzusetzen.
    Kleiber konnte den Spielern diese Freiheit lassen. Schließlich arbeitete er mit Profis. Die Musiker waren gut ausgebildet, sie kannten die Spielregeln des Konzerts. Das technische Gerüst

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