»Wer lacht, hat noch Reserven«
kontrollierten sie weitgehend selbst. Kleiber dagegen kontrollierte die Vision.
Dennoch duldete der Maestro keinen Widerspruch. Immer wieder gab es Momente, in denen er seine Macht aufblitzen ließ, in denen er zeigte, dass der freie Raum nur so lange frei war, wie man die in ihm herrschenden Gesetze befolgte. Streng wachte Kleiber über sie, auch über die Details.
»Es gibt in einem Kleiber-Konzert eine Szene, in der sich ein Trompeter gleich dreimal verspielt«, sagt Talgam. Und es sei bemerkenswert, wie der Maestro reagiere: Beim ersten Verspieler zupft er sich kurz am Ohrläppchen. Beimzweiten Mal droht er mit dem Zeigefinger. Und beim dritten Mal wirft er dem Trompeter einen Blick zu, der in etwa aussagt: »Warte nach dem Konzert auf mich, ich habe eine kurze, sehr unangenehme Nachricht für dich.«
Doch Kleiber konnte den Raum nicht nur nach Belieben verengen, er konnte ihn auch ausdehnen. Spielte ein Musiker ein Solo, versteckte der Maestro den Taktstock unter verschränkten Armen. Er lehnte sich zurück, lauschte lächelnd der Melodie. »Er gab dem Musiker Feedback, rückte ihn einen Moment lang ins Zentrum seiner Welt«, sagt Talgam. »Endete das Solo, ließ er den Solisten wieder auf Normalgröße zusammenschrumpfen.«
Leonard Bernstein. Führung durch Empathie
Wer seine Vision so unwiderstehlich kommuniziert wie Kleiber, gilt zu Recht als perfekter Dirigent. Leonard Bernstein führte sein Orchester ebenso perfekt – auf eine völlig andere Weise. »Er war ein perfekter Mensch«, sagt Talgam.
Talgam war eine Zeit lang Bernsteins Assistent. Er hat mit angehört, wie Musiker den Maestro baten: »Sag mir, wie ich spielen soll.« Bernstein habe dann geantwortet: »Das funktioniert so nicht. Ich kann dich nicht als Instrument benutzen. Ich brauche dich als ganze Person.«
Bezeichnend für Bernsteins Führungsstil ist laut Talgam eine Probe von Igor Strawinskis »Le Sacre du Printemps« (»Die Frühlingsweihe«), einem der anspruchsvollsten Klassik-Stücke überhaupt. Der damals schon über 70-Jährige gibt den zum großen Teil sehr jungen Orchestermusikern keine Regeln vor, er erläutert ihnen stattdessen die Bedeutung der Musik. Er findet Bilder, die den Musikern signalisieren, dass er sie trotz des Altersunterschiedes versteht – und die sie gleichzeitig die Stimmung der Partitur verstehen lassen.
Als Bernstein einem Tubisten erklärt, wie er eine Note blasen soll, die wie ein Brunftschrei klingt, sagt er: »Stellen Sie sich vor, Sie lägen auf einer saftigen Wiese, es ist Frühling, und Sie wollen das Gras umarmen, nein, Sie wollen hineinbeißen. Sie machen: › OAAAAARRR !‹«
»Bernstein füllt die abstrakten Noten mit Sinn«, sagt Talgam. »Er zeigt den Musikern, warum das, was sie tun, gut und wichtig ist. Er ist ein Motivationsgenie.«
Wer so führt, braucht keinen Taktstock mehr. Und tatsächlich schaffte es Bernstein bei manchen Aufführungen, fast ohne Gesten auszukommen. Er dirigierte mit einem Lächeln, einem Augenrollen, einem Lippenschürzen. Er konnte seinem Orchester voll und ganz vertrauen, weil er wusste, dass es ihm genauso vertraute.
Durch Empathie schaffte Bernstein etwas, das die Machtverhältnisse nicht nur aufzuheben, sondern umzukehren schien. Eine schmachtende Violinenmelodie ließ ihn zuckersüß lächeln, bei Mollakkorden schürzte er melancholisch die Lippen.
»Wo Ricardo Muti 100 Prozent Kontrolle hat, erreichte Bernstein 200 Prozent«, sagt Talgam. »Weil er und sein Orchester dasselbe fühlen. Weil er den Musikern völlige Freiheit gibt – und gleichzeitig völlige Sicherheit.«
»Damit aber erreichte er das Größte, das ein Chef vielleicht erreichen kann«, sagt Talgam. »Er machte seine Mitarbeiter, seine Kunden und sich selbst durch Arbeit glücklich.«
Dieser Text erschien zuerst im Juli 2009 auf SPIEGEL ONLINE .
Bitte beachten Sie: Diese letzten beiden Kapitel sind weniger lustig als das restliche Buch. Sie richten sich an Menschen, die ihren Chef nicht nur manchmal als nervig oder anstrengend erachten, sondern die wirklich unter ihren Vorgesetzten leiden und gern wüssten, wie sie sich besser wehren können.
Im 14. Kapitel finden Sie eine Reihe Übungen, mit denen Sie Ihre eigene Schlagfertigkeit trainieren können. Es soll Ihnen helfen, gegenüber Ihren Vorgesetzten selbstbewusster aufzutreten – und den Boss gegebenenfalls in die Schranken zu verweisen, wenn er Regeln des sozialen Zusammenlebens allzu brutal bricht.
Das 15. Kapitel richtet sich an
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