Wer Liebe verspricht
wollte, nach einem kurzen Aufenthalt in England …«, sie verstummte nervös. »… habe ich etwas Falsches gesagt …?«
Olivia murmelte leise etwas Unverständliches und schüttelte den Kopf. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ein Häubchen, das sie für Amos häkelte.
Sechs Monate!
Ein Tropfen im Meer der Zeit – und doch eine Ewigkeit! Wie hatte er annehmen können, sie habe sechs Monate Zeit? Sie sollte sich in ihrer Zwangslage mit seiner lässigen und einseitigen Entscheidung einfach abfinden? Er ließ sie ohne jede Erklärung im Stich und glaubte in seiner Überheblichkeit, sie werde auf ihn warten wie eine Sklavin, die er wie ein feudaler Grundbesitzer gekauft hatte? Olivia erfaßte ohnmächtige Wut, ihr Mund füllte sich mit Bitterkeit. Aber in ihrem unbewegten Gesicht war nichts zu sehen.
Sie nahm ihr Strickgarn und legte es in den Nähkorb. Estelles Bericht ermüdete sie. Sie wollte den Namen Jai Raventhorne nicht mehr hören und all die Tugenden, die Estelle plötzlich an ihm entdeckt hatte. Olivia hatte großes Mitgefühl für ihre trauernde Cousine, aber der Name Raventhorne summte in ihren Ohren wie ein giftiges Insekt, das sie im nächsten Augenblick stechen würde. Er bedrohte ihr geistiges Gleichgewicht, brachte sie um ihre Vernunft, und genaugenommen war er eine Beleidigung für sie als Frau.
»Du siehst müde aus, Estelle«, sagte Olivia so freundlich wie möglich, um ihre Gefühle nicht zu verletzen. »Und du quälst dich mit diesen Erinnerungen noch mehr als ich. Wir haben ja noch genug Zeit. Lassen wir die Sache erst einmal ruhen und sprechen ein anderes Mal darüber.«
Estelle wollte Olivia unter keinen Umständen verärgern. Sie fügte sich wortlos und nickte nur.
*
Tage der befohlenen Ruhe, des erzwungenen Nichtstuns brachten Olivia neue Kraft – sowohl geistig als auch körperlich. Schließlich erklärte Dr.Humphries, er sei mit der Entwicklung zufrieden. Aber er lehnte es kategorisch ab, über ihre zaghafte Frage, ob sie reisefähig sei, auch nur ernsthaft nachzudenken. Dazu, knurrte er, gehe es ihr ganz bestimmt noch nicht gut genug. Aber wenn sie unbedingt wolle, werde er ihr ein paar Stunden täglich im Kontor erlauben. »Vorausgesetzt«, warnte er, »Sie werden mir nicht übermütig. Wir müssen immer noch vorsichtig sein. Andererseits möchte ich nicht, daß Sie vor Langeweile so dumm wie Bohnenstroh werden …«
Olivia beugte sich niedergeschlagen seinem Urteil. Etwas anderes wäre auch selbstzerstörerisch gewesen, denn in ihr wuchs ein Kind heran, das von ihrer Gesundheit abhängig war. Und dieses Kind würde eines Tages für viele Menschen von großer Bedeutung sein. Immerhin waren selbst kurze Besuche im Handelshaus besser als geistiger Leerlauf zu Hause. Olivia wußte sehr wohl, daß es in der elitären Kolonialgesellschaft als skandalös galt, daß sich eine schwangere Frau in der Öffentlichkeit zeigte. Sie hatte sich bereits einmal über diese Regel hinweggesetzt und war dafür kritisiert worden. Es jetzt wieder zu tun, kam offener Rebellion gleich. Aber das kümmerte sie nicht im geringsten.
»Ach Unsinn!« Estelle freute sich mit ihr über Dr.Humphries’ Vorschlag. »Zum Teufel mit dem sogenannten Anstand! Hier kann man doch tun, was man will, irgend jemand hat immer etwas daran auszusetzen! Darüber müssen wir uns keine Gedanken machen. Außerdem, wenn du im Kontor bist, mußt du die Kondolenzbesuche nicht ertragen.«
Das stimmte. Estelles tägliche Besucherinnen waren für Olivia eine Strafe, obwohl sie sich große Mühe gab, es sich nicht anmerken zu lassen – besonders nicht Estelle gegenüber. Es rührte Olivia, daß es ihrer Cousine trotzdem nicht entgangen war, und das sagte sie auch. Estelle errötete vor Freude. Selbst dieses winzige Zeichen der Anerkennung erfüllte sie mit größter Dankbarkeit. Vielleicht machten Olivias Worte sie mutig, denn sie wagte sich einen Schritt in ein Gebiet vor, das bisher tabu gewesen war.
»Wirst du jemals zu Freddie nach London gehen?«
Die plötzliche Frage überraschte Olivia, aber sie sah keinen Anlaß, etwas zu verheimlichen, und antwortete: »Nein.«
»Er weiß, wer der Vater von Amos ist?«
»Ja.«
»Und deshalb will er ihn nicht anerkennen?«
Die richtige Schlußfolgerung bewies Estelles Reife. »Ja.«
Olivia wollte keineswegs das Messer noch tiefer in Estelles Gewissen stoßen, aber ihre Cousine war völlig niedergeschlagen. »Für mich, die es so wenig verdient«, flüsterte
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