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Wer Liebe verspricht

Wer Liebe verspricht

Titel: Wer Liebe verspricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Ryman
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Weihnachten sich so sehr von dem anderen unterschied, war einzig und allein ihrer Cousine Estelle zuzuschreiben, wie Olivia sich bereitwillig eingestand. Estelle hatte Olivias zweiten Brief herzlich und rührend ausführlich beantwortet und war postwendend in Kalkutta erschienen. Sie hatte sich so sehr verändert, daß Olivia erschrak. Sie hatte abgenommen, die übersprudelnde Lebhaftigkeit war gedämpft, und die blitzenden Augen blickten traurig. In der ersten Woche in Kalkutta sprach Estelle nur selten von ihrem Vater. Bei der Ankunft konnte sie ihren Kummer nicht zurückhalten. Sie warf sich Olivia in die Arme, klammerte sich an sie und weinte wie ein Kind, das allein und verlassen auf einem Jahrmarkt herumirrt und sich fürchtet. Aber dann schob sie ihre Gefühle energisch beiseite und machte sich daran, die kranke Olivia zu pflegen. Olivia wußte, daß Estelle oft allein in ihrem Zimmer weinte. Der Kummer schwand nicht aus ihren Augen, aber sie ließ sich nicht davon überwältigen. Estelle versuchte, auf jede erdenkliche Weise wiedergutzumachen, was sie als schreckliche Schuld empfand. Sie las Olivia alle Wünsche von den Augen ab, bemühte sich, alles richtig zu machen, und warb um die Vergebung, nach der sie sich sehnte. Mit grimmiger Entschlossenheit ging sie daran, in ein Haus die Fröhlichkeit zu bringen, die alle dringend brauchten.
    Die Weihnachtsfeier und das lustige Treiben waren Estelles Idee gewesen. »Ein stilles Weihnachten?« rief sie entsetzt, als Olivia das leise vorschlug, »Amos wird uns das nie verzeihen! Schon um seinetwillen müssen wir dafür sorgen, daß Weihnachten so fröhlich wie möglich wird. Wir müssen uns über unsere Gefühle hinwegsetzen.« Olivia konnte ihre Rührung nicht leugnen.
    Olivia konnte ebenfalls nicht leugnen, daß ihre Beziehung dank Estelles Bemühungen und Initiative bald wieder so unbeschwert wie früher war. Die Kühlheit der ersten Tage war inzwischen merklich gewichen. Estelle unterdrückte die eigene Niedergeschlagenheit und bemühte sich, Olivia aufzuheitern. Und das konnte ihr nicht leichtfallen. Olivia freute sich darüber, wie problemlos ihre schwer erschütterte Freundschaft wieder in Gang kam. Sie war ihrer Cousine gegenüber nicht ganz gerecht gewesen. Aber da Estelle von Natur aus nicht nachtragend sein konnte, war ihr Gewissen erleichtert.
    Außerdem bedeutete der Waffenstillstand eine Spannung weniger in ihrem Leben. Estelle verbrachte auch viele Stunden mit Arthur Ransome und wußte inzwischen zweifellos ebenfalls alles. Es gab also keinen Grund mehr, ihr etwas vorzumachen, und auch das war eine Erleichterung. Olivia litt sehr unter der erzwungenen Rekonvaleszenz. Estelles Fröhlichkeit und gute Laune – wie forciert auch immer – machten sie zu einer angenehmen Gesellschafterin, und Olivia konnte es leichter ertragen, ans Haus gefesselt zu sein. In dem vergangenen Jahr mit seinen Tragödien und Alpträumen war Estelle reifer geworden. Sie beschäftigte sich nicht mehr unentwegt mit Nebensächlichkeiten, und das ständige enervierende Gerede, das nur um sie kreiste, der Schwall an Klatsch über Kalkuttas Gesellschaft, waren weitgehend verstummt. Estelle ließ bei Gesprächen jetzt mehr Zurückhaltung erkennen. Sie war schließlich erwachsen geworden, ganz wie sie es sich ersehnt hatte. Aber welchen Preis hatte sie – und hatten andere! – dafür zahlen müssen!
    »Erzähl’ mir vom Tod deines Vaters«, sagte Olivia eines Abends, als Weihnachten vorüber war und das Jahr 1850 ernst und feierlich näherrückte.
    »Nein!« Estelle zuckte entsetzt zusammen. Der ganze verborgene Kummer entlud sich in diesem Aufschrei. »Ich kann nicht … darüber reden. Noch nicht …«
    »Aber du mußt, Liebes«, ermahnte sie Olivia sanft. »Nur wenn du darüber sprichst, wirst du dich damit abfinden können, nur dann werden deine Gedanken zur Ruhe kommen. Wenn du alles unterdrückst, wird es nur länger dauern, bis diese Wunde verheilt ist.«
    Aber Estelle vergrub das Gesicht in den Händen und schüttelte stumm den Kopf. Olivia hatte Verständnis für ihre Trauer und ließ das Thema fallen. Wenn Estelle ihre Gründe hatte, nicht vom Schmerz über den Tod ihres Vaters zu sprechen, dann wollte sie aber aus ebensoguten Gründen über ihre Erfahrungen mit Jai Raventhorne reden. Zunächst fürchtete sie Olivias Zorn und hütete sich, den Namen zu erwähnen. Aber unvermeidlich kam das Gespräch eines Tages auf ihn. Jetzt hätte Olivia zurückzucken müssen,

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