Wer Liebe verspricht
aber sie tat es nicht. Sie hatte sich seit Estelles Ankunft gegen das Unvermeidliche gewappnet, und so gelang es ihr, nichts als höfliche Gleichgültigkeit zu zeigen.
»Ich habe ihn nur erwähnt, weil … weil du gesagt hast, er ist dir gleichgültig«, sagte Estelle unsicher und nervös.
»Das stimmt«, versicherte ihr Olivia. »Meinetwegen kannst du reden, über wen du willst.«
Estelle konnte nicht ahnen, daß hinter der gelassenen Aufforderung ein Motiv steckte. Olivia hatte aus demselben Grund auch Ransome so bereitwillig zugehört. Für sie zählte die Vergangenheit nicht mehr. Sie dachte nur an die Zukunft. Bald würde Raventhorne aus Assam zurückkommen. Olivia wußte, Begegnungen, möglicherweise sogar Konfrontationen, würden sich nicht vermeiden lassen, denn sie arbeitete ganz in seiner Nähe, und das Handelshaus der Birkhursts hatte oft mit Trident zu tun. Olivia würde die Konfrontationen nicht herbeiführen, aber Raventhorne dachte bestimmt anders darüber! Für ihn war sie eine Verräterin; er hatte ihre Motive bloßgestellt, sie herabgewürdigt und entehrt. Er würde versuchen, sein tief verwundetes Ego zu trösten, und wie sie wußte, kannte seine Rachsucht keine Grenzen. Olivia mußte lernen, gegen ihn zu kämpfen, und zwar so gut, daß der Kampf zu einem Ende kam, sonst würde Jai Raventhorne mit seiner unfehlbaren Beobachtungsgabe und seiner Intuition irgendwie und aus irgendeiner Quelle die Wahrheit über Amos herausfinden.
Um gegen diesen Mann antreten zu können, mußte Olivia gut gerüstet sein, und dazu war ihr alles recht. Langsam fühlte sie sich ihm besser gewachsen, aber noch war sie bedauerlich schwach und ihm unterlegen. Estelle war ihrem Bruder in dem einen Jahr nähergekommen. Sie hatte ihn für sich so eingenommen, wie er sie für sich. Estelle hatte ihn in unbewachten Augenblicken erlebt, wenn er seinen Panzer ablegte, und in sehr aufschlußreichen, alltäglichen Situationen, in denen er sich vielleicht unbewußt Blößen gab. Es war Raventhorne gelungen, Estelle ihrer Mutter zu entfremden, er hatte indirekt den Tod ihres Vaters herbeigeführt, und es war ihm beinahe gelungen, auch Olivias Leben zu ruinieren, wie er es von Anfang an geplant hatte. Olivia wollte unbedingt erfahren, durch welche subtilen Vorgänge sich Raventhornes Gedanken und Absichten geändert hatten. Wieso konnte Estelle ihn trotz aller Verbrechen als Bruder akzeptieren und sogar lieben? Olivia wußte instinktiv, ihre eigene Strategie würde sich auf das gründen, was Estelle ihr erzählte. Sie würde deshalb aufmerksam zuhören und dann das tun, was Lady Birkhurst nach eigener Aussage von ihrem Mann gelernt hatte – mit großem Geschick die Spreu vom Weizen zu trennen. Olivia schluckte ihren Widerwillen, schob alle anderen Überlegungen beiseite und ermunterte, ihre Cousine zu reden.
Estelle folgte der Aufforderung bedrückt, aber dankbar. Sie sah darin ein weiteres hoffnungsvolles Zeichen dafür, daß Olivia ihr großmütig verzieh. Außerdem hatte sie verständlicherweise bisher mit niemandem offen über all das reden können. Und wem sonst als der geliebten Cousine konnte sie sich voll und ganz anvertrauen?
Trotz der sich selbst auferlegten Bereitschaft, Estelle zuzuhören, blieb Olivia zunächst wachsam. Sie wartete auf verletzende Formulierungen, feine Anspielungen, verdeckten Hohn – aber nichts dergleichen kam von Estelle. Der offene Bericht über ihr Abenteuer, wie sie es einmal genannt hatte, verriet weder Bosheit noch Verlegenheit, sondern nur den leidenschaftlichen Wunsch, ihrer so tragisch mißhandelten Cousine nichts zu verheimlichen. Olivia hatte Estelle schon immer um ihre Gabe beneidet, sich mit den schlimmsten Erfahrungen des Lebens abzufinden. Auch jetzt staunte sie über den Pragmatismus und, die Einschichtigkeit, mit der Estelle dieses Erlebnis in die Welt ihrer Gedanken aufgenommen hatte. Sowenig sie über den Selbstmord ihres Vaters sprechen mochte, so sehr wollte sie Olivia alles erzählen, was sie mit Jai Raventhorne erlebt hatte.
Nachdem sie sich erst einmal mit dem abgefunden hatte, was Jai ihr mit so großer Gefühlskälte offenbarte, so berichtete Estelle, erholte sie sich schnell. Sie fand sich, allerdings wütend, auch mit den entsetzlichen Konsequenzen ihrer Lage ab, die ihr Raventhorne zwar nicht erläuterte, die sie aber durchaus verstand. Als sie die Kabine verlassen durfte, stritten sie sich erbittert. Es kam ständig zu heftigen Zusammenstößen. »Ich habe ihm
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