Wer Mit Schuld Beladen Ist
strömte heraus. Eisige Luft fegte hinein.
»Jesus, Noble«, sagte er. »Versuch, dich zusammenzureißen.«
Noble schüttelte den Kopf. »Zusammenreißen?«, keuchte er. »Hast du … hast du sie gesehen? Ihr Gesicht ist einfach weg.«
Lyle, ein Schatten vor dem blendenden Licht aus dem Windfang und vom rasch fallenden Schnee verschleiert, wusste, dass er für seinen Officer nur ein verschwommener Umriss war. Gott sei Dank. Seine Selbstbeherrschung hing am seidenen Faden. Ein falsches Wort, eine falsche Bewegung, und er würde sie ebenso verlieren wie Noble. Armer Hund. Er kontrollierte seine Stimme, um gelassen zu klingen. »Ich habe sie gesehen.« Abgeschlachtet wie ein Tier. »Es wird ihr nicht helfen, wenn du jetzt zusammenbrichst.«
Er suchte die Straße ab. Ein einsames Auto fuhr auf sie zu, wurde langsamer, fuhr weiter. Gut. Er hörte das gedämpfte Knirschen von Stiefeln durch Schichten von lockerem und festem Schnee. »Was hast du, Eric?«
»Ich habe die Aussage der Freundin aufgenommen.« Officer Eric McCrea tauchte aus der Dunkelheit auf, während er auf das lange Rechteck aus Licht zulief. »Soll ich sie wirklich nicht zum Revier fahren und das Ganze auf Video aufzeichnen?«
»Nein.«
Eric beugte sich zu ihm, als wollte er den Schatten durchdringen, den der Schirm von Lyles Kappe warf. »Das ist der falsche Zeitpunkt für Abkürzungen. Wir werden den Scheißkerl kriegen, der das getan hat, und wenn es so weit ist, wollen wir nicht, dass er freikommt, weil wir Beweise nur unzureichend gesichert haben.«
Lyle holte tief Luft, um McCrea zusammenzuscheißen, biss dann aber die Zähne zusammen und ließ es sein. Es war nicht seine Schuld. Er war mit den Nerven am Ende. Das waren sie alle. Und Lyle würde nicht in der Lage sein, das allein durchzuziehen. Er würde ein oder zwei von den anderen brauchen, die ihm den Rücken deckten. Zurückhaltung – das war das Gebot der Stunde.
»Nun?«, forderte Eric.
Grelles Licht durchbrach ihr Starren. Ein weiteres Fahrzeug schob sich die Kurve der Auffahrt hoch, die Scheinwerfer tanzten zwischen den weißen Wellen.
»Scheiße. Das ist Kevin Flynns Truck.« Lyle funkelte McCrea an. »Hast du ihn angerufen?«
»Nein. Und wennschon? Was, zum Teufel, geht hier ab, Lyle?«
Der fast neue Aztek sah aus wie das, was er war: der stolze Besitz eines Jungen, der seinen Anfängerführerschein vor sieben Jahren gemacht hatte. Er kam hinter McCreas schräg stehendem Streifenwagen rumpelnd zum Stehen, und Flynn sprang heraus. Kevin, der jüngste Officer der Polizei von Millers Kill, bekam allmählich genug Fleisch auf die Rippen, um seine Ähnlichkeit mit einem riesigen Hundebaby zu verlieren. In dem Versuch, älter als sechzehn zu wirken, ließ er sich seit kurzem ein DJ-Bärtchen wachsen, ein möchtegern-cooles Quadrat Gesichtsbehaarung unterhalb seiner Unterlippe. Unglücklicherweise besaß Flynns Gesichtsbehaarung dieselbe Farbe wie die auf seinem Kopf, und dadurch sah er – zumindest in Lyles alten und uncoolen Augen – aus, als hätte er eine riesige, pelzige Sommersprosse auf dem Kinn.
»Harlene hat mich angerufen. Auf dem Handy!« Kevin trampelte durch den Schnee, seine Miene offen und eifrig. »Ich habe ihr gesagt, dass ich heute frei habe, aber sie meinte, ich sollte herkommen. Was wollen wir denn beim Haus vom Chief?« Endlich war er nahe genug, um Lyles und Erics Gesichtsausdruck zu erkennen. Er runzelte die Stirn. »Jungs? Was ist denn los?«
Harlene hatte ihn angerufen. Lyle sank das Herz. Himmel, vermutlich trommelte sie alle Männer der Abteilung zusammen. Wie, zum Teufel, sollte er jetzt vorgehen?
Hinter ihm rappelte sich Noble auf, ein schmutziger, tränenüberströmter Bär, der aus seiner Höhle kroch. Flynn erkannte ihn. »Noble?« Er wandte sich an Lyle. Er sah verängstigt aus. »Ist es … ist es der Chief?«
»Nein.«
Die einsilbige Antwort reichte nicht, um die Furcht von Kevins Gesicht zu vertreiben. Lyle atmete tief ein und versuchte es noch einmal. »Dem Chief geht’s gut, Kevin. Wir versuchen … einen Tatort zu sichern, ohne zu viel Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.« Aus dem Augenwinkel sah er, wie Eric der Mund aufklappte. »Ich habe eine Aufgabe für dich. Nimm den Truck und stell dich auf die Kreuzung von Peekskill und River Road. Hast du dein Blaulicht dabei?«
Kevin nickte.
»Gut. Ich habe die Spurensicherung der State Police angerufen. Sie schicken einen Wagen und ein paar Techniker. Ich will, dass du nach ihnen Ausschau
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