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Wer Mit Schuld Beladen Ist

Wer Mit Schuld Beladen Ist

Titel: Wer Mit Schuld Beladen Ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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der Straße trennte.
    »Danke«, erwiderte Russ. »Bei dem vielen Schnee hätte ich es vielleicht nicht erkannt.«
    Mark errötete und rammte sich die Mütze auf den Kopf. Sie stiegen aus. Russ musterte den Parkplatz, während sie zum Vordereingang trotteten. Er erkannte Lyles Pontiac und Eric McCreas Subaru, Nobles unscheinbaren Buick und Harlenes Explorer. Gott sei Dank, niemand, der nicht sowieso Dienst hatte. Das schloss die Stripperinnen aus. Es sei denn, Lyle plante, ihn zum Golden Banana in Saratoga zu zerren.
    Vorsichtig erklomm er, Mark hinter ihm, die verschneiten Granitstufen und stapfte den Korridor hinunter zu seinem Büro, während er den Schnee abschüttelte. Das Revier von Millers Kill war ein hochmodernes Polizeigebäude – nach den Maßstäben von 1880. Jede Menge Granit, Marmor und Milchglas. Nur wenige Nischen eigneten sich für die große elektronische Zentrale mit den Schalttafeln. Im Keller stand ein riesengroßer Abwassertank aus der Zeit, in der die Richter ihre Runden noch in Einspännern gedreht hatten. Im Obergeschoss lag ein Gewirr kleiner Büros.
    Für Harlenes Zentrale hatte man zwei kleine Zimmer zusammengelegt, und jetzt klemmte sie zwischen der Einsatzzentrale (ehemals für drei Beamte und einen Lagerschrank) und Russ’ Büro (original, aber mit wesentlich hässlicheren Möbeln als die seiner Vorgänger vor einhundert Jahren).
    »Ich hoffe stark, dass jemand eine Erklärung für mich hat«, sagte Russ, als er die Funkzentrale betrat. Harlene sah ihn an, ihre Augen waren gerötet und verschwollen. Schweigend deutete sie auf seine Bürotür, wie der Geist der zukünftigen Weihnacht – so der Geist der zukünftigen Weihnacht eisengraue, dauergewellte Löckchen und ein MKHS-Freiwilligen-Sweatshirt über der rundlichen Figur trug.
    Seufzend trat er ein. Lyle erwartete ihn schon. Was für eine Überraschung.
    »Okay, was ist los?« Russ ging zu seinem abgewetzten Metallschreibtisch und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte seinen Deputy an.
    Lyle schloss die Tür. Kontrollierte den Knauf. Er biss sich auf die Wange. »Es hat …« Er verstummte. »Ich muss dir …« Er schien ernsthaft verstört.
    Russ beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf diverse, halb erledigte Unterlagen. »Sag’s mir einfach, Lyle.«
    MacAuley setzte sich. Russ hatte Lyle immer als gleichaltrig betrachtet, doch im unfreundlichen Neonlicht wurde ihm klar, dass sein Freund und Diskussionspartner der sechzig näher als der fünfzig stand. Seine buschigen Augenbrauen enthielten mehr Weiß als Grau, und die Falten um seine Augen, die ihm normalerweise ein trügerisch träges Aussehen verliehen, schienen eingegraben und unwiderruflich, als hätte man die Haut vom Knochen gezogen und liegen lassen.
    »Lyle?«
    Lyle fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Es gibt keine Möglichkeit, dir das schonend beizubringen, Russ. Deine Frau ist umgekommen. Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«
    In Russ’ Verstand kamen sämtliche Gedanken und Sorgen zum Erliegen, verstummten. Alles in Sichtweite schien von einer jenseitigen Klarheit: der feuchte Schimmer auf Lyles Gesicht, die dünne Staubschicht auf dem ausgefransten Philodendron in der Ecke, die verblichenen, zerlesenen Exemplare der Police Gazette, die sich auf einem zusätzlichen Stuhl stapelten.
    »Linda?«, fragte er.
    MacAuley nickte.
    Russ schnaubte. »Das ist lächerlich.«
    »Russ, ich weiß, dass es schwer …«
    »Linda ist eine gute Fahrerin. Vorsichtig. Auch wenn auf den Straßen Schnee liegt – das hat sie im Griff. Und ihr Auto? Ein alter Volvo-Kombi? Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie viele von denen in den drei Counties zugelassen sind. Ihr habt den Wagen verwechselt.«
    Lyle schüttelte den Kopf, nein, schwang ihn hin und her wie eine Glocke, und sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, als würde ein grauenhaftes Ding dahinter darauf lauern, ans Tageslicht zu treten. Plötzlich hatte Russ Angst. Angst vor dem, was vor ihm lag.
    »Es war kein Autounfall, Russ, sie wurde ermordet. Erstochen. In eurer – in der Küche.«
    »Ermordet«, wiederholte er dumpf.
    »Entwhistle, McCrea und Flynn sind gerade dort, zusammen mit der Spurensicherung von der State Police. Wir finden denjenigen, der das getan hat, Chief. Ich schwöre, wir finden ihn. Und wenn wir ihn haben, wird er den Rest seines Lebens bereuen, jemals geboren worden zu sein.«
    Das grauenhafte Ding war hier. Er spürte, wie er zerbrach, sein Mund

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