Wer mordet schon in Franken? - 11 Krimis und 125 Freizeittipps
perfekt. Er glaubte manchmal nicht, dass es solche Tage noch geben konnte. Zu Hause war alles von einem Firnis aus Trauer und Müdigkeit überzogen. Er verstand nicht, dass seine Frau nach zehn Jahren immer noch keine Freude am Leben mehr gefunden hatte. Es war so lange her. In seiner eigenen Erinnerung jedenfalls. Jener Tag, an dem Karl von dem Fahrzeug erfasst und durch die Luft geschleudert worden war. Es war ja nichts zu machen gewesen. Das hatte damals auch die Polizei festgestellt.
Niemand hatte etwas machen können. Es war dunkel, es regnete. Karl hätte bei dem Wetter nicht drauÃen sein dürfen, aber der Junge war so ein Wildfang, es war schwierig, ihn länger als ein paar Stunden im Haus zu halten. Der Wagen fuhr nicht zu schnell, er hatte ganz normale Geschwindigkeit, doch bei dem Wind, dem Starkregen ⦠und dann gleich hinter einer Kurve ⦠Kein Mensch hätte den Jungen am StraÃenrand sehen können, er war einfach unvorsichtig, hatte er ihm nicht beigebracht, sich vor dem StraÃenverkehr in acht zu nehmen?
Lothar fuhr sich durchs Haar. Man konnte hadern und trauern, aber irgendwo gab es doch noch ein Leben. Er würde sich die Lebensfreude nicht mehr nehmen lassen. Für ihn war ohnehin die Natur das Wichtigste. Die Einsamkeit hier drauÃen, im Schatten einer übermächtigen Grenze. Einer Grenze, die seit mindestens 15 Jahren undurchdringlich war. In weniger als 15 Minuten wäre er zu Fuà am Grenzstreifen. Erst im letzten Winter war eine Mine hochgegangen. Unter der Schneelast. Nicht das erste Mal. Lothar stapfte über die Wiese. Hier kannte er jedes Kraut und jeden Baum, der sich tapfer dem Wind entgegenstemmte. Er hatte die Sozialisten immer verachtet. Den Sozialdemokraten hätte man damals schon den Garaus machen sollen, als noch Zeit war, dachte er grimmig. Diese Missgeburt von einer Partei! Wenn man sich heute in Deutschland auch nicht mehr frei äuÃern konnte, so hatte er, Lothar, eine ganz andere Epoche erlebt. Eine Zeit, in der auch einfache Leute wie er jemand waren. Eine Zeit, in der man ihre Anliegen ernst nahm und etwas für ihre Zukunft tat.
Er erklomm eine kleine Anhöhe und versuchte, an etwas anderes zu denken. Sein Leben hatte wirklich merkwürdige Wendungen genommen. Nicht zum Guten. Seine Hoffnungen waren enttäuscht worden. Dabei hatte er hier, gerade hier, seine goldenen Stunden gehabt â¦
Beinahe wäre er auf eine Silberdistel getreten.
*
Die alte Frau Schandau, mit Vornamen Sidonie, lebte in Bad Brückenau im Seniorenheim. An dessen Leiterin hatte ich mich gewandt, weil ich gerne über die von den Nationalsozialisten initiierten Umstrukturierungen der Rhön und ihrer Bewohner schreiben wollte. Durch Zufall hatte ich einen Aufsatz über den Dr. Hellmuth-Plan gelesen. Die Nazis hatten vor, die Bevölkerung der Rhön komplett zu kartografieren und rassisch zu âºsiebenâ¹, damit eine bäuerliche Schicht entstand, die die Landwirtschaft der nationalsozialistischen Ideologie entsprechend prägen sollte. Auch landschaftlich veränderten die Nazis ziemlich viel in unserem herben Mittelgebirge, indem sie Moore abtorften und alles Erdenkliche unternahmen, um noch auf 800 m Höhe Getreide anbauen zu können. Hierzu wurden sogenannte âºMusterhöfeâ¹ errichtet. Ich war auf der Suche nach Zeitzeugen, die diese Musterhöfe noch selbst erlebt hatten, obwohl mir klar war, dass ich viel Glück brauchen würde, um jemanden zu finden.
Aber die Leiterin des Seniorenheims machte mir Mut.
»Frau Schandau wird nächste Woche 90. Sie lebt manchmal in ihrer eigenen Welt. Wahrscheinlich brauchen Sie Geduld mit ihr. Bestimmt freut sie sich über Besuch.«
Ich tappte zu Zimmer 46 und klopfte.
»Herein!«
Sie saà im Rollstuhl am Fenster und blickte auf das Nachbarhaus. Jemand hatte einen Topf Petunien auf ihrer Fensterbank abgestellt. Die Blumen lieÃen traurig die Köpfe hängen.
»Die sind nichts für drinnen«, sagte Sidonie Schandau, auf die Petunien zeigend. »Die wollen raus!«
»Grüà Gott, Frau Schandau. Ich bin Liv Sundberg von â¦Â«
»Tag.« Sie kniff die Augen zusammen. »Kenne ich Sie?«
»Ich denke nicht â¦Â«
»Setzen Sie sich.« Sie wies auf einen Plastikstuhl neben ihrem Bett. Das Zimmer war klein, überladen mit Nippes, doch sämtliche Porzellantierchen, Glasschälchen und Hummelfiguren
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