Wer mordet schon in Franken? - 11 Krimis und 125 Freizeittipps
nicht arbeitete, weil er sich einmal im Vierteljahr einen Tag Urlaub nahm? Von dem seine Frau nichts wusste, weil er eben mal Zeit für sich brauchte?
Lothar stampfte mit dem Fuà auf. Verflucht! Er suchte sich einen Platz hinter einer Birke, duckte sich, wartete ab. Tatsächlich lief der Kinderpulk mit den bunten Rucksäcken gute 20 Meter an ihm vorbei. Er wischte sich den Schweià von der Stirn. Ganz am Ende der Gruppe ging die Lehrerin. Sie trug einen Strohhut und schlenkerte fröhlich mit den Armen, während sie die Gruppe zur Eile antrieb.
Dann waren sie weg.
Lothar kam aus seinem Versteck. Er wollte allein sein, Himmel noch einmal, warum empfand er nur das drängende Gefühl, sich vor sich selbst verteidigen zu müssen? Kopfschmerzen kündigten sich an, das war typisch, wenn er sich ärgerte, brachen sie aus ihm heraus, seit damals, du lieber Gott, er war ein Produkt der Kriegsgeneration, er hatte schlimme Sachen gesehen, er hatte auch selbst Leute umgebracht. Das war seinerzeit eben so, das hatte er auch seiner Frau erklärt. Sie verstand das, keine Frage. Wenn er nicht aufgepasst hätte, damals, und wenn er nicht so gute Freunde gehabt hätte, Freunde, die durch eine nie zu zerstörende Loyalität mit ihm verbunden waren â auch sein Leben wäre verwirkt gewesen.
Ein Geräusch lenkte ihn ab. Es war nicht das Brummen in seinem Schädel, das von Minute zu Minute weiter anschwoll. Es war etwas Helles, Glockenhelles! Es erinnerte ihn an ⦠Nein! Nicht denken!
Er erinnerte sich aber trotzdem. Ein Mädchen sang. Ein kleines Mädchen. Lothar rannte. Er achtete nicht auf die seltenen Pflanzen auf seinem Weg, denen er sonst so behutsam auswich. Er lief, keuchend. Das Mädchen hockte auf einem Stein am Weg und band einen BlumenstrauÃ. Die letzten Blumen des Sommers. Lothar war sprachlos.
*
Ich brachte Sidonie Schandau bis ins Terrassencafé des Bellevue. Auf ihrem Schoà lag eine bauchige Handtasche aus Krokoimitat.
»Ich habe keine Kinder«, seufzte Sidonie, während ich sie an einen Tisch schob, den Sonnenschirm justierte und mich auf einem Stuhl ihr gegenüber niederlieÃ. »Also kann ich auch auf niemanden psychischen Druck ausüben, mit mir Ausflüge zu machen. Pech.«
»Und Ihr Mann?«, fragte ich vorsichtig.
»Er ist vor zwölf Jahren gestorben.« Sie kniff die Lippen zusammen. »Wenn ich gewusst hätte ⦠ich hätte ihm den Tod schon früher an den Hals gewünscht.«
»So schlimm?«
Sie zuckte die Achseln. »Schlimmer. Schlimmer, als Sie es sich je vorstellen können!«
»Sie sehen schick aus.«
»Ach ja?« Sie blickte stolz auf das altrosa Kostüm, das sie nun trug, die Gemme an der weiÃen Bluse. »Die Schuhe allerdings sind ein Albtraum. Im Heim schwören sie auf Klettverschlüsse. Die sparen Zeit.«
»Was stimmt nicht mit Ihren Beinen?«
»Das wollen Sie alles gar nicht wissen.«
Die Bedienung kam an unseren Tisch. Sidonie bestellte Kaffee im Kännchen, aber mit Sahne, mit flüssiger, und Frankfurter Kranz. Dazu Schlagsahne, aber auf einem Extrateller. Das alles zwei Mal. »Sie haben doch nichts dagegen?«, fragte sie mich.
Ich schüttelte den Kopf. Sie hatte Perlenohrstecker angelegt, das fiel mir erst jetzt auf. Gerade wollte ich etwas Nettes dazu sagen, als sie mir zuvorkam.
»Sie wollen von mir eine Geschichte für die Zeitung? Das habe ich doch richtig verstanden?«
»Genau. Ich â¦Â«
»Dann hören Sie zu. Ich habe Geschichten auf Lager, dass Sie mit den Ohren schlackern. Verstehen Sie, was ich meine?« Sie klopfte auf die Krokotasche. »Jetzt trinken wir Kaffee und verspeisen unseren Frankfurter Kranz, und dann fange ich an.«
Ergeben fügte ich mich in mein Schicksal. Sidonie Schandau war offenbar keine Frau, die auf eine klassische Interviewtechnik ansprechen würde. Sie hatte ihre Version der Dinge, und die würde sie mir zuspielen. In ihrem Tempo. Aus ihrer Sicht. Damit musste ich mich abfinden.
*
All die Enttäuschungen, die Rückschläge, die lähmenden Stunden des Alltags â sie waren vergessen, abreagiert. Er fühlte sich vollkommen erfrischt. So war es schon einmal gewesen.
Damals.
Deswegen wusste er auch, was nun folgen würde. Das Mädchen starrte ihn nur an, sagte keinen Ton. Ein paar Kratzspuren durchzogen ihre Wangen. Das blonde Haar war zerzaust,
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