Wer nichts hat, kann alles geben
bei unseren Taktikübungen nur um Fragen von Truppenverschiebungen und Weltherrschaft ging, sah ich in diesem Film Individuen und ihre ganz persönlichen Schicksale. Mit einem Mal verloren diese Spiele für mich jede Attraktivität: Ich wollte
nicht weiter mit dem Leben und Sterben von Menschen spielen, jeder Strich auf dem Papier stand in meinem Kopf jetzt für eine reale Gestalt.
So ähnlich verhält es sich auch mit vielen Dingen, die in der Schule vermittelt werden, zum Beispiel mit den Lebensbedingungen auf anderen Kontinenten. Es ist das eine, im Unterricht zu hören, dass Menschen in Afrika an Hunger sterben oder in Lateinamerika ihr Leben von einem Bruchteil dessen bestreiten müssen, was uns zur Verfügung steht. Doch es ist etwas anderes, sich die Zustände vor Ort mit eigenen Augen anzusehen. Dabei könnte der Anschauungsunterricht schon hier, vor der eigenen Haustür, beginnen. In der Schule wird erklärt, wie unsere industrielle Nahrungsmittelproduktion funktioniert. Warum schickt man die Schüler nicht besser in die Schlachthöfe, wo sie sehen können, was mit den Tieren geschieht? »Reife« erlangt für mich nicht, wer das Leben nur aus Büchern kennt, sondern nur, wer die Welt mit seinen eigenen Sinnen wahrnimmt, hört, sieht und spürt.
Insofern war auch ich kein wirklich reifer Mensch, als ich mit achtzehn Jahren die Schule verließ, immerhin mit einem ganz passablen Abschluss. Die vier Jahre Oberstufe auf der neuen Schule waren unaufgeregt verlaufen. Mit den Lehrern hatte ich meinen Frieden geschlossen und sogar einen für mich wirklich vorbildlichen Lehrer gefunden – so wie er wollte ich auch einmal meine Schüler unterrichten. Auch die Hänseleien, unter denen ich auf meinem ersten Gymnasium so sehr zu leiden gehabt hatte, hatten nachgelassen.
Wahrscheinlich hätte ich einen besseren Abschluss geschafft, wenn ich zu dieser Zeit nicht schon längst mit dem Segelfliegen begonnen hätte. Die Abiturprüfungen ausgerechnet in die Hochsaison der Segelfliegerei zu verlegen – das war natürlich nicht besonders geschickt vom Ministerium.
Der Flug
I ch bin ein Vogel. Seit ich mir als kleiner Junge vorgestellt habe, ohne jede Anstrengung durch die Luft zu gleiten, nur durch kleinste Bewegungen meines Körpers zu steigen und zu sinken, ahnte ich, dass ich auch in der richtigen Luft in meinem Element sein würde. Es war deshalb nur eine Frage der Zeit, bis ich auch im realen Leben in die Luft ging, um herauszufinden, wie weit die Wirklichkeit mit meiner Fantasie übereinstimmte.
Ohne die Erfahrungen, die ich seitdem beim Segelfliegen gemacht habe, wäre ich heute ein anderer Mensch. Vieles von dem, was ich über das Leben lernen durfte, habe ich zuerst im Cockpit eines Segelflugzeugs begriffen, bevor ich es in den Alltag auf festem Grund und Boden integrieren konnte. Das Segelfliegen ist für mich zu einem Synonym für das übrige Leben geworden. Hier wie dort ist man oft gezwungen, Entscheidungen über Folgen zu treffen, die nicht abzuschätzen sind, weil man noch nicht weit genug sehen kann.
»Wer sein Leben liebt, der schiebt«, heißt ein gern bemühtes Sprichwort, wenn es ums Radfahren geht.
Das gilt auch für mich, bis heute hat sich nichts daran geändert, dass ich mich mit Flügeln deutlich wohler fühle als auf zwei Rädern oder zwei Beinen. Wenn man es leicht abwandelt, könnte es deshalb als mein Lebensmotto durchgehen: »Wer sein Leben liebt, der fliegt.« Hätte ich das Segelfliegen nicht für mich entdeckt, käme ich mir wahrscheinlich vor wie ein Vogel, dem die Flügel zusammengeknotet wurden.
Wenige Monate vor meinem sechzehnten Geburtstag war es endlich so weit! Schuld daran war ein Film, an dessen Titel ich mich nicht mehr erinnern kann, wohl aber an seine Geschichte. Sie handelt von einem Jungen, der in seiner Freizeit an seinen Modellflugzeugen herumwerkelt und sie per Fernsteuerung fliegen lässt. Irgendwann besucht er einen Segelflugplatz und schaut dort ganz begeistert den echten Flugzeugen beim Starten und Landen zu. Wie magisch fühlt er sich von den Maschinen angezogen, die er bis dahin nur im Miniaturformat kannte. In der Mittagspause gehen der Fluglehrer und seine Schüler zum Essen. Keiner bleibt zurück, der Flugplatz ist verwaist. Schüchtern schleicht sich der Junge zu den Flugzeugen und schaut sich um. Er bleibt bei einem stehen, das er sich von außen genauer ansieht, und steigt ins Cockpit. Bald ist sein Wunsch so stark, selbst fliegen zu wollen, dass er die Haube
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