Wer nichts hat, kann alles geben
es: Das Einzige, was im Leben beständig ist, ist die Veränderung. Das ist ein schöner Gedanke. Denn er bedeutet, dass das sture Festhalten an etwas, was einmal Bedeutung hatte, ins Unglück führen muss. So wie ich an einer Beziehung festgehalten hatte, weil ich nicht wusste, was danach kommen würde. Und damit meine ich auch die Beziehung zu mir selbst.
Der Verkauf
D as Leben mit Lucie stellte mein Leben auf einen Schlag vom Kopf auf die Beine. Man könnte auch sagen: vom Kopf auf den Bauch. Ihr Temperament, ihre Tatkraft und ihre Entschlussfreudigkeit waren wie Brennholz für mich, das meinen inneren Motor befeuerte. War mein Leben bis dahin geordnet und fast brav verlaufen, entwickelte es sich innerhalb kurzer Zeit zu einem feurigen Abenteuer. Ich war nun mit einer Frau zusammen, die tat, was ihr das Gefühl vorgab. Ohne lange darüber nachzudenken, ohne sich um die Bedenken anderer zu kümmern. Es war, als habe sich auf dem Weg, auf den ich mich begeben hatte, ein Turbo zugeschaltet.
So auch, als es um unsere erste gemeinsame Nacht ging. Wir hatten uns nach meinem Zwischenstopp in Prag verabredet, eine Woche später für einen Spaziergang und ein Abendessen nach Brünn zu kommen, auf halbem Weg zwischen Lucies Wohnort und dem Schauplatz der Junioren-WM. Nach der Weltmeisterschaft wollten wir ein paar gemeinsame Tage in der Slowakei verbringen. Die beiden Termine warfen unweigerlich
die Frage auf, wie wir es mit der Übernachtung halten wollten. Ich fragte sie, ob ich ihr jeweils ein Einzelzimmer buchen sollte oder wir uns ein Doppelzimmer teilen wollten.
Lucie war, wie sie mir später erzählte, etwas irritiert, als ich erklärte: »Es ist mir egal, was dort passiert, ich wünsche mir einfach nur, dich im Arm zu halten und zu streicheln.« Sie wurde höchst misstrauisch und fragte sich insgeheim: »Was, um Gottes willen, ist an diesem Mann verkehrt?« Nichts, ich fand es einfach nur schön, sie als Frau wahrzunehmen. Alles andere, was noch in dieser Nacht geschehen würde, wäre ein zusätzliches Geschenk.
Sie aber wollte schon in Brünn herausfinden, was das für ein Mann war, der sie einfach nur im Arm halten wollte: Wir verbrachten dort unsere erste gemeinsame Nacht in einem wunderbaren Hotel aus der k. u. k.-Zeit, mit Blick auf die meist befahrene Straßenkreuzung der Stadt. Weil sie nur in frischer Luft schlafen konnte und das Fenster offen stand, konnte ich wegen des Lärms die ganze Nacht über nicht einschlafen. Trotzdem stand mir ein verliebtes Lächeln im Gesicht, als ich mich am nächsten Morgen übermüdet, aber glücklich von ihr verabschiedete.
Sexualität ist für mich die intimste Form des gegenseitigen Beschenkens. Sie gehört untrennbar zum Menschsein, bis ins hohe Alter. Menschen können nicht nicht sexuell aktiv sein. Darauf zu verzichten ist so, als würde man sagen: »Du hast Augen, aber schau nicht!« Sexualität kann für mich aber nur wirklich erfüllend
sein, wenn zwei Menschen in der gegenseitigen Berührung gemeinsam versinken und sich nicht ständig nur um die eigene Befriedigung oder die des Partners kümmern. Auch hier greift oft das Konsum-und das Leistungsprinzip. Wer sich beim Sex nur darauf konzentriert, etwas zu leisten, verkrampft und verliert aus den Augen, worum es tatsächlich geht: Aufmerksamkeit, Nähe, Verschmelzung. Wer dagegen ganz im Hier und Jetzt aufgeht, erlebt die wahre Befriedigung – so wie Lucie und ich in unserer ersten Nacht, die für mich war, als hätte ich einen kurzen Blick ins Paradies erhascht.
Im darauffolgenden Sommer verbrachten wir zwei Wochen in Italien bei einer offenen italienischen Segelflug-Meisterschaft. Die fand einen ihrer Höhepunkte bereits bei einem Trainingsflug, in dessen Verlauf ich Lucie zum ersten Mal das Steuer überließ. Wir waren unterwegs mit einem Kollegen aus der Nationalmannschaft, der neben uns einen Einsitzer steuerte. Davor war Lucie noch nie in Eigenregie geflogen. Umso beeindruckter war ich, als sie in einem Aufwind das Ruder übernahm.
Mit einer Souveränität, als hätte sie in ihrem Leben nie etwas anderes getan, schraubte sie das Flugzeug in formvollendeten Kreisen nach oben, wir stiegen unserem Teamkollegen einfach davon. Über Funk meldete er sich bei uns: »Steigen tust du aber schon gut, Karl.« Ich antwortete: »Steigen stimmt, aber nicht Karl – das war Lucie.« Es muss für ihn der Schock seines Lebens gewesen sein, dass ein Mensch mit null Segelflugstunden
ein Mitglied der Nationalmannschaft
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