Wer nichts hat, kann alles geben
schlicht auskurbelt – so heißt das im Segelflugjargon, wenn der eine besser steigt als der andere.
Danach dachte ich: »Irgendwie dreht sich die Welt auf einmal ganz anders.« So entfesselt anders flog ich dann auch im Wettbewerb, den ich überlegen gewann. Und das, obwohl oder weil wir die Tage und Nächte in Italien einfach genossen. Tagsüber flog ich im Doppelsitzer mit unterschiedlichen Copiloten den Wettbewerb, abends schlenderten Lucie und ich durch die Stadt und genossen das wundervolle italienische Essen und das köstliche Eis. Es war eine unbeschreiblich schöne Zeit.
In gewisser Weise hatte Lucie auch mich ausgekurbelt, wenn auch nicht in der Luft. Sie ist eine Frau, die nicht lange fackelt. Weniger als ein halbes Jahr, nachdem wir uns beim wilden Trommeln auf dem Kochtopf getroffen hatten, entschied sie, ihr Leben in Tschechien aufzugeben und nach Tirol überzusiedeln. Sie besuchte gemeinsam mit ihrer Tochter einen Deutsch-Sprachkurs und suchte einen Käufer für ihre Steuerberatungskanzlei. Weil Babsi zuerst noch ihr Schuljahr zu Ende bringen musste, dauerte es bis zum folgenden Sommer, bis die beiden ihre Zelte endgültig abbrachen und zu mir in das Haus zogen, das Irene bereits einige Monate davor verlassen hatte.
Babsi absolvierte in Österreich noch ein Intensiv-Sprachcamp, um sich in ihrer neuen Umgebung besser zurechtfinden zu können, und ging zu Beginn des neuen Schuljahres in eine österreichische Schule. Für unsere Liebe war Lucie bereit gewesen, ihr bisheriges
Leben und das ihrer Tochter über den Haufen zu werfen. Ihre Durchsetzungskraft inspirierte mich sehr. »Schau an«, dachte ich bei mir, »wie schnell sich die Dinge verändern können, wenn man sie nur entschlossen genug anpackt!« Ich fragte mich, was für Dinge es waren, die ich nun mit derselben Entschlossenheit verändern wollte.
Schnell wurde mir klar, dass der wichtigste Schritt für mich der Verkauf meiner Firma war. Sie stand für alles, was ich inzwischen aus meinem Leben kehren wollte: die Beschäftigung mit zwar schönen, aber letztlich sinnlosen Dingen, die Fixierung auf materiellen Erfolg, die stetige Wiederkehr so elementarer wie bedrückender Fragen. Einen Käufer zu finden war nicht schwer. Die Firma war etabliert, verfügte über beste Kontakte zu Abnehmern und fuhr Jahr für Jahr ordentliche Gewinne ein. Ich sprach ein paar Unternehmer an, von denen ich dachte, sie könnten Interesse an »Karl Rabeder Kunsthandwerk« haben, auch meinen unmittelbaren Konkurrenten. Ihm passte der Erwerb meiner Firma genau in seine Wachstumsstrategie, weshalb er mir das beste Angebot von allen machte: ein sowohl gerechtfertigter als auch realistischer Preis. Mit jemandem ein Geschäft einzugehen, bei dem ich nicht sicher sein kann, dass er sich das auch leisten kann, ergibt für mich keinen Sinn.
So ging im Herbst 2004 in Tirol das in die Hände eines anderen über, was seine Wurzeln im Garten meiner Großeltern in Leonding gehabt hatte. Wehmut kam dabei aber kaum auf. Ich hatte mich ja aus guten
Gründen für den Verkauf entschieden. Lucie und ich nahmen uns vor, von nun an das Leben zu genießen und Sinnvolles zu tun. Ich begriff diesen Schritt als eine vorgezogene Pensionierung: Ich war zweiundvierzig Jahre alt und stand am Beginn eines neuen Lebensabschnitts.
Mir wurde relativ bald klar, wie ich meine Energien in Zukunft einsetzen wollte. Ich hatte allen zeitlichen Freiraum, um einen Gedanken zu verfolgen, der mich einst auch dazu bewogen hatte, Lehrer zu werden. Es erschien mir sinnvoll, in der Entwicklung eines Menschen möglichst früh anzusetzen, vor allem in den Ländern, die ich im Rahmen meiner vielen Segelflugexpeditionen bereist hatte. Dort wollte ich den Teufelskreis durchbrechen, in dem sich viele Biografien gewissermaßen nach unten kurbeln.
Junge Menschen erhalten in ihrer Jugend keine vernünftige Bildung, geraten als Erwachsene aus Mangel an Alternativen auf die schiefe Bahn, werden kriminell oder nehmen Drogen und bringen Kinder zur Welt, die am Ausgangspunkt der gleichen Laufbahn stehen. Die Politik reagiert darauf größtenteils, indem sie die Kriminellen ins Gefängnis wirft und die Süchtigen in die Anstalt. So weit muss es aber erst gar nicht kommen, wenn man frühzeitig denjenigen Hilfe an die Hand gibt, die am Rande der Gesellschaft leben und in Gefahr sind abzurutschen, weil sie sich denken: »Ich begleite lieber eine Drogenfuhre oder baue auf einem Teil meines Ackers Kokapflanzen an, als in Armut zu
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