Wer nichts hat, kann alles geben
sagen, was. Als ich im Auto saß, fragte ich mich: Warum fährst du jetzt wirklich da hin? Ich hörte in mich hinein und ging die Palette der Möglichkeiten durch, bei denen ein Signal anschlagen hätte können. Bin ich verknallt in diese Frau? Nein, es schlug nichts an. Sie war eine wundervolle Frau, aber es würde wahrscheinlich nicht einmal eine Freundschaft daraus werden können. Sollte ich also tatsächlich nur auf dem Weg dorthin sein, um ihr zu gratulieren? Nein, eigentlich nicht. Was war es dann, von dem ich deutlich spürte, wie sehr es mich anzog?
Ich komme nachmittags um vier auf dem Flugplatz an. Gehe die ganzen Teamquartiere durch auf der Suche nach meinen Bekannten, sehe eine Frau auf einem Liegestuhl vor einem Wohnmobil liegen und denke nur: Wow! Kurze Zeit später kommt allerdings ein Mann aus dem Wohnmobil, und ich verstehe: Ach so! Abends sitze ich dann beim Abschlussessen am Tisch mit Freunden aus Japan und wundere mich über mich selbst: So ein Unsinn, jetzt bist du diese weite Strecke hergefahren, und es gibt nichts, was sich so anfühlt, als sei es das wert gewesen. Da spüre ich den Blick derselben Frau, die am Nachmittag vor dem Wohnmobil lag. Inzwischen weiß ich, dass ihr Begleiter nicht ihr Mann ist, sondern der Gatte der Weltmeisterin
in einer anderen Segelflug-Klasse und sie deren Helferin.
Irgendwann, die Abschlussfeier ist bereits in vollem Gange, fängt es zu schütten an, die Band hört zu spielen auf. Also beschließen ein paar Pilotinnen, Helfer und ich: Wenn die Band keine Musik mehr macht, müssen eben wir einspringen. Einer spielt Gitarre, ein paar argentinische Mädels singen dazu, und ich spiele Kochtopf. Nach einer Stunde, in der wir wie verrückt gespielt und getanzt haben, spüre ich wieder einen Blick aus dem – Publikum kann man eigentlich nicht sagen, weil wir eher peinlich als unterhaltsam sind. Es ist ihr Blick, sie steht bestimmt 30 Meter von mir entfernt. Ich bedeute ihr mit beiden Zeigefingern herzukommen.
Ich forderte sie zuerst zum Tanzen und dann zum Quatschen auf, was insofern etwas mühsam war, als sie fließend Tschechisch und sehr gut Russisch sprach, aber extrem schlecht Englisch und genauso wenig Deutsch. Trotzdem blieben wir aneinander hängen, zwischen uns gab es von Beginn an eine Verbundenheit, für die es keinerlei Worte bedarf. Wir hatten sehr bald das Gefühl, im anderen etwas gefunden zu haben, was uns zur Vollkommenheit jeweils noch gefehlt hatte.
Als ich Irene erzählte, dass ich mich in eine andere Frau verliebt hatte, war sie sehr erleichtert. Bald fanden wir wieder in das Bruder-Schwester-Verhältnis zurück, das uns auch während unserer Beziehung verbunden hatte. Bis heute ist Irene ein wichtiger Mensch
in meinem Leben geblieben, auf den ich nicht verzichten möchte.
Lucie lebte in der Nähe von Prag mit ihrer damals elfjährigen Tochter Barbora, später Babsi genannt, und unterhielt dort eine Steuerberatungskanzlei. Zu unserem zweiten Treffen fuhr ich nach Prag, ich war unterwegs zur Junioren-WM in der Slowakei, die ich als Trainer begleitete. Das bedeutete zwar einen enormen Umweg. Aber um Lucie wiederzusehen, hätte ich wahrscheinlich auch behauptet, dass Hamburg auf der Route von Tirol in die Slowakei liege. Wir verbrachten einen wundervollen Abend zusammen.
Am nächsten Tag stellte sie mir ihre Tochter vor, weil es ihr ein großes Anliegen war, dass auch wir beide gut miteinander konnten. Wir sahen uns und fühlten uns sofort verbunden. Damit war für die Mutter ein wichtiger Vorbehalt ausgeräumt. Wenn ihre Tochter und ich uns nicht verstanden hätten, hätte das unsere Beziehung unmöglich gemacht. So aber war dieser Ausflug der Beginn einer zauberhaften Dreier-Fernbeziehung zwischen Telfs und einem kleinen Nest bei Prag.
Innerhalb eines halben Jahres war damit, wenn auch anfangs gegen meinen Willen, ein großer Ballast aus meinem Leben geräumt. Mir wurde klar, dass Irene und ich unsere Beziehung schon viel früher hätten beenden müssen. Es macht einen umso glücklicher, je mehr man sich von dem befreit, was einen vom eigenen Glück abhält. Das verändert sich natürlich mit der Zeit. Es gibt vieles, von dem man sagen kann: Das ist
nicht meins, das habe ich von außen aufgedrückt bekommen – durch Erziehung, Schule, Freunde, Beruf, was auch immer. Es gibt aber auch vieles, was einmal sehr bedeutsam war und irgendwann einfach vorbei ist. Das Leben ist keine Konstante, es ist in permanenter Bewegung.
Im Buddhismus heißt
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