Wer nichts hat, kann alles geben
nicht in wenigen Wochen abzuwickeln war, aber ich wollte mir die Zeit nehmen und solange eben mein altes Leben fortsetzen – mit Vasen, Kerzen und Silvesterglücksbringern. Die Aussicht, dass mein Leben danach ein zufriedeneres sein würde, wog die Anstrengungen bei weitem auf, gewissermaßen ein Doppelleben führen zu müssen.
Was mir dabei half, waren die Werkzeuge, die ich mir über die Beschäftigung mit mentaler Leistungssteigerung angeeignet hatte. Über die Meditation war ich irgendwann beinahe zwangsläufig beim Buddhismus gelandet, an dem mich vor allem die nichtreligiösen Aspekte interessierten, also diejenigen, die sich mit den Grundfragen des Lebens beschäftigen: Was braucht es, um ein glückliches Leben zu führen? Wie findet man den Zugang zu sich selbst? Und wie lassen sich jahrhundertealte Weisheiten in die Moderne überführen?
So lernte ich beispielsweise, dass es im Zen-Buddhismus die Lehre vom Zustand der besitzlosen Leichtigkeit gibt. Allein die Formulierung hätte mir noch ein paar Jahre zuvor die Lachtränen in die Augen getrieben: Wer nach Leichtigkeit sucht, indem er seinen Besitz loswird, kann allenfalls leichtgläubig sein.
Jetzt aber begann ich zu begreifen, was damit tatsächlich gemeint war. Wer viel besitzt, kann gar nicht verhindern, dass seine Gedanken vor allem darum kreisen, den Besitz zu verteidigen oder zu vermehren. Die Ressourcen, die er dabei vergeudet, fehlen ihm zwangsläufig bei den Dingen, die wirklich zählen und glücklich machen: Beziehungen zu anderen Menschen etwa oder die Suche nach dem Sinn im eigenen Tun und Sein.
Damit eng verbunden ist die Erkenntnis, dass nur glücklich werden kann, wer versucht, im Hier und Jetzt zu leben. Ich musste mir eingestehen, dass ich bis dahin eher ein Meister darin gewesen war, im Immerirgendwo-anders und im Morgen zu existieren. Herausforderungen hatten mich immer nur genau so lange interessiert, bis sie bewältigt waren, dann ging es zur Nächsten. Die Entwicklung unserer Firma hatte mich immer nur insofern befriedigt, als ich daraus die Entwicklungspotenziale für die Zukunft ablesen konnte. Ich gab mich nie zufrieden mit dem, was war, sondern hechelte immer dem hinterher, was sein könnte, in der Hoffnung, dass irgendwo in der Zukunft ein Punkt erreicht sein würde, an dem die Hechelei ein Ende finden würde. Was natürlich nicht passiert, solange man nicht von selbst dahinterkommt, dass die Hechelei nicht von allein endet. Ein Leben im Hier und Jetzt erfordert die Bereitschaft, jeden Moment bewusst zu erleben, ohne sich tumb berieseln zu lassen und möglichst keine Sekunde durch sinnlose Ablenkung zu verschwenden.
Irene und ich führten ein Leben, das unweigerlich auf eine Zäsur zulief, ohne dass uns das recht bewusst gewesen wäre. Unsere Firma lief gut, ich hatte meine Segelfliegerei, die mich irgendwann zum Coach und Trainer machte, indem ich die Betreuung des Junioren-Nationalteams übernahm, Irene widmete sich ihren Hobbys. Als im Jahr 2003 ein Trainingslager der Junioren in Frankreich anstand, sagte ich zu ihr, dass es doch Blödsinn sei, wenn sie mich dorthin begleitete. Sie solle sich stattdessen eine schöne Zeit machen. Also flog sie allein in den Tauchurlaub – und tauchte wieder auf mit der Erkenntnis, unsere Ehe nicht fortsetzen zu wollen.
Dass mit dem Eheversprechen keine Garantie einhergehen würde, dass wir auf Gedeih und Verderb zusammenbleiben würden, war für uns von vornherein abgemacht. Der Traum von einem gemeinsamen Leben bis ans Ende aller Tage ist für mich eine kaum einlösbare Illusion. Zwei Menschen, die sich entschließen, eine Beziehung einzugehen, sind wie zwei Gleise, die in dem Moment des Zusammentreffens zufällig parallel verlaufen. Soweit man es überblicken kann, tun sie das auch in der für beide einsehbaren Zukunft. Niemand aber kann wissen, ob sie auch in weiter Ferne noch nebeneinanderliegen oder in unterschiedliche Richtungen laufen. Niemand kann heute wissen, wo er in zehn Jahren steht. Irene und mir war das vollkommen bewusst, wir hatten uns das gegenseitig immer eingestanden: Wir heiraten, wohlwissend, dass wir uns auch wieder scheiden lassen können.
Ein Ewigkeitsversprechen ist schlicht unfair, sich selbst, aber auch dem anderen gegenüber. Wenn es irgendwann nicht mehr passt und man diesen Schwur trotzdem einhalten will – das finde ich schrecklich. Man quält sich selbst und den anderen mit einer großen Unzufriedenheit. Ich bewundere die Paare, die nach einer
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