Wer nie die Wahrheit sagt
Angst? Verzweiflung? Schwer zu sagen. Leider. Er war gut. Sehr beherrscht.
Fast erstickt presste Tennyson hervor: »Du bist ein Bulle. Du siehst nur das Schlechte. Du hast tagtäglich mit schlechten Menschen zu tun. Was geschehen ist, hat nichts damit zu tun, dass irgendjemand Lily umbringen wollte – außer Lily selbst. Sie war ziemlich krank, alle wissen das. Auch Lily weiß es, sie akzeptiert es sogar. Die logischste Erklärung ist doch, dass sie einfach nicht mehr weiß, wie es geschah, weil sie sich nicht eingestehen will, dass sie ein zweites Mal versucht hat, sich umzubringen. Das ist alles. Mehr ist da nicht dran. Und ich lasse mir eure Anschuldigungen nicht länger bieten. Dies ist mein Haus. Ich möchte, dass ihr beide verschwindet. Ich möchte, dass ihr uns in Ruhe lasst.«
Savich erwiderte: »In Ordnung, Tennyson, Sherlock und ich gehen nur zu gerne. Gleich nach dem Essen, wenn du’s wissen willst. Aber Mrs. Scruggins hat das hier extra für mich gemacht, und ich will mir keinen Bissen davon entgehen lassen. Ach ja, habe ich eigentlich erwähnt, dass wir alles über Lynda wissen – du weißt doch? Deine erste Frau, die sich nur dreizehn Monate nach eurer Hochzeit umgebracht hat.«
Sie hatten Lily nichts über Lynda Middleton Frasier erzählt. Sie erstarrte zu einer Salzsäule, den Mund weit aufgerissen, das letzte Fünkchen Hoffnung erstickt. Als ihr Mann so ruhig, so vernünftig sprach, hatte sie sich schon gefragt, ob sie sich möglicherweise tatsächlich irrte, ob ihr Verstand derart in Unordnung geraten war, dass sie ihm einfach nicht mehr trauen konnte. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt wusste sie, dass sie sich überhaupt nichts zusammenfantasiert hatte. Großer Gott, hatte er etwa seine erste Frau umgebracht? Entsetzlich, unvorstellbar. Lily zitterte am ganzen Leib, sie konnte es nicht verhindern. »Ich weiß noch, du hast mir erzählt, dass du mal kurz verheiratet warst, Tennyson, vor langer Zeit«, brachte sie mühsam hervor und hielt dabei ihr Messer so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Vor langer Zeit?«, Sherlock zog eine Braue hoch. »Klingt, als wär’s mindestens zehn Jahre her oder länger, nicht? Als wäre er als Jugendlicher mit einem Mädchen durchgebrannt. Die Wahrheit ist, Lily, dass Tennysons erste Frau, Lynda, sich vor zwei Jahren umgebracht hat – gerade mal acht Monate bevor du nach Hemlock Bay kamst und ihn kennen lerntest.« Jetzt blickte sie Tennyson in die Augen und fügte mit vollkommen ausdrucksloser Stimme hinzu: »Aber du hast nichts davon erwähnt, dass deine erste Frau Selbstmord beging. Wie kommt das, Tennyson?«
»Es war ein sehr tragisches Ereignis in meinem Leben«, antwortete Tennyson ruhig, ganz wieder Herr seiner selbst. Er nahm sein Weinglas in die Hand und nippte an dem Napa Valley Chardonnay. Er war sehr trocken, sehr würzig, genau wie er ihn mochte. »Es verfolgt mich noch immer. Wieso sollte ich darüber reden? Nicht, dass es ein Geheimnis wäre. Lily hätte es von jedem hier in der Stadt erfahren können, auch von meiner eigenen Familie.«
Sherlock beugte sich vor, ihr Essen für den Moment vergessen. Der Fehdehandschuh lag im Ring, und das Ganze faszinierte sie ungemein. Sie lächelte Tennyson Frasier an. »Trotzdem, erscheint es nicht ein klitzekleines bisschen relevant, Tennyson, deiner jetzigen Frau zu sagen, dass sich deine erste Frau umgebracht hat, ganz besonders nach Lilys erstem Selbstmordversuch vor sieben Monaten? Würde da nicht jeder ins Grübeln kommen und sich denken: Hoppla, vielleicht stimmt ja was nicht mit mir? Zwei Frauen, die versuchen sich zu killen, nachdem sie erst kurz mit mir verheiratet sind? Wie oft kommt so was vor, Tennyson, was glaubst du? Zwei tote Ehefrauen. Ein Ehemann, der lebt?«
»Nein, das alles ist einfach lächerlich. Nichts davon war in irgendeiner Weise relevant. Lily ist ganz anders als Lynda. Beths Tod hat Lily einfach umgeworfen, und auch die Rolle, die sie bei dem Unfall spielte.«
»Ich habe dabei keine Rolle gespielt«, warf Lily langsam ein. »Das ist mir jetzt klar geworden.«
»Ach, wirklich, Lily? Denk noch mal drüber nach, ja? Und was Lynda angeht, sie hatte einen Gehirntumor. Sie hatte nicht mehr lange zu leben.«
Was für eine Bombe, dachte Savich und fragte dann:
»Ein Gehirntumor?«
»Ja, Savich, die Ärzte stellten einen Gehirntumor fest. Inoperabel. Sie wusste, dass sie sterben musste. Sie fürchtete sich vor den Schmerzen, vor dem Verlust ihrer Persönlichkeit,
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