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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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nordamerikanischen –, heute die Welt regiert, warum nicht andere, aus anderen Kerngebieten stammende Kulturen hegemonial geworden sind und warum es eine solche Vormachtstellung überhaupt gibt.
    Auf der Grundlage derselben Logik bezeichne ich als »Osten« all jene Gesellschaften, deren Herkunft auf das östlichste (und zweitälteste) eurasische Kerngebiet zurückgeht. Auch der Osten dehnte sich von diesem ursprünglichen Zentrum zwischen Gelbem Fluss und Jangtse aus, in dem die Domestizierung von Pflanzen um 7500 v. u. Z. einsetzte, und reicht heute von Japan im Norden bis zu den Staaten Indochinas im Süden.
    Die Gesellschaften, die aus den anderen Kerngebieten (einem südöstlichen, dem heutigen Neuguinea, einem südasiatischen, dem heutigen Nordindien und Pakistan, einem afrikanischen, heute östliche Sahara, und zwei Regionen in der Neuen Welt, dem heutigen Mexiko und Peru) stammen, haben ihre eigene faszinierende Geschichte. Ich werde sie im Folgenden immer wieder streifen, konzentriere mich aber so beharrlich wie nur möglich auf Vergleiche zwischen Osten und Westen, weil ich grundsätzlich davon ausgehe, dass die am höchsten entwickelten Gesellschaften so gut wie immer solche waren, die aus einem der beiden entsprechenden Kerngebiete stammten. Albert in Beijing ist eine denkbare Alternative zu Looty in Balmoral, ein Szenarium, in dem es Albert nach Cusco, Delhi oder Neuguinea verschlagen hätte, wäre indes kaum vorstellbar. Insofern lässt sich am effektivsten erklären, warum der Westen die Welt regiert, wenn man sich auf die Ost-West-Vergleiche konzentriert, und genau das habe ich getan.
    Natürlich hat diese Herangehensweise ihren Preis. Sicher würde sich ein umfassenderes und detailreicheres Bild ergeben und wir würden den Beiträgen, die Südasien, der amerikanische Doppelkontinent und andere Teile der Erde zur Zivilisation geleistet haben, gerechter werden, wenn wir alle Regionen der Welt ins Auge fassen würden. Doch ein solch globaler Blick hätte auch gravierende Nachteile: Er würde vom Wesentlichen ablenken und noch mehr Seiten beanspruchen, als dieses Buch ohnehin schon hat. Von Samuel Johnson, dem geistreichsten Kopf, den England im 18. Jahrhundert hervorgebracht hat, stammt die Bemerkung, alle |41| Welt bewundere zwar John Miltons
Das verlorene Paradies
, aber niemand würde sich wünschen, dass das Werk noch länger wäre, als es bereits ist. Und was für Milton gilt, trifft sicher mehr noch auf alles zu, was ich hier präsentiere.
    Wenn die Geographie wirklich eine Erklärung der Geschichte à la Herodot, in der alles seit langer Zeit festgeschrieben ist, liefern würde, könnte ich ziemlich schnell einen Schlussstrich ziehen, nachdem ich dargelegt hätte, dass die Domestizierung im Westen um 9500 und im Osten um 7500 v. u. Z. einsetzte. Denn dann würde die gesellschaftliche Entwicklung im Osten der im Westen für immer um 2000 Jahre hinterherhinken, und im Westen hätte eine industrielle Revolution stattgefunden, während man im Osten noch mit dem Schreibenlernen beschäftigt gewesen wäre. Aber so war es ja nun einmal nicht. Wie wir im Folgenden noch sehen werden, war Geschichte nicht durch geographische Gegebenheiten determiniert, weil geographische Vorteile sich letztendlich immer selbst konterkarieren. Sie treiben die gesellschaftliche Entwicklung voran, doch im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung verändert sich die Bedeutung der Geographie.
    In dem Maße, in dem die gesellschaftliche Entwicklung voranschreitet, dehnen sich Kerngebiete aus, sei es aufgrund von Wanderbewegungen oder Nachahmungen von nützlichen Innovationen in benachbarten Kulturen. Techniken, die in einem älteren Kerngebiet erfolgreich angewendet wurden – gleichgültig, ob es dabei um Landwirtschaft und Dörfer, Städte und Staaten, mächtige Reiche oder Schwerindustrie ging –, kamen auch in anderen Kulturen und neuen Lebenswelten zum Einsatz. Manchmal erlebten sie in dem neuen Umfeld eine wahre Blüte, manchmal vegetierten sie gerade so dahin, und manchmal bedurfte es gewaltiger Modifikationen, damit sie überhaupt funktionierten.
    Es mag befremdend klingen, aber die größten Fortschritte erlebt die gesellschaftliche Entwicklung oft da, wo Techniken, die von einem höher entwickelten Kerngebiet übernommen wurden, nicht besonders erfolgreich angewandt werden. Manchmal liegt das daran, dass die Probleme, die mit der Übernahme alter Techniken in einer neuen Umgebung verbunden sind, umwälzende Neuerungen

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