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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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– sei im Gegensatz dazu eher geeignet, eine höhere Rate von Geistesgestörten hervorzubringen. »Die Kalifornier«, versicherte Huntington seinen Lesern, »kann man mit Rennpferden vergleichen, die bis zur Erschöpfung angetrieben werden, sodass sie noch vor dem Ziel zusammenbrechen.« 11
    Natürlich sind das Weisheiten, über die man sich mit Recht lustig machen kann. Wenn ich behaupte, dass die Geographie erklärt, warum der Westen die Welt regiert, |39| habe ich etwas vollkommen anderes im Sinn. Geographische Unterschiede haben langfristige Auswirkungen, die aber niemals festgeschrieben sind, und was in einer Phase der gesellschaftlichen Entwicklung als geographischer Vorteil gilt, kann zu einem anderen Zeitpunkt ohne jede Bedeutung oder sogar ein eindeutiger Nachteil sein. Man könnte sagen, dass geographische Faktoren zwar als Antrieb gesellschaftlicher Entwicklung fungieren, dass die gesellschaftliche Entwicklung aber über die Bedeutung der Geographie entscheidet. Es ist ein Prinzip der Gegenseitigkeit.
    Um das ein bisschen genauer zu erklären – und einen kurzen Hinweis darauf zu geben, was Sie in diesem Buch erwartet –, möchte ich einen Blick zurückwerfen auf die kälteste Phase der letzten Eiszeit vor zwanzigtausend Jahren. Damals spielte die Geographie eine sehr wichtige Rolle: Ein großer Teil der nördlichen Hemisphäre war von kilometerdicken Eisschichten bedeckt, die gesäumt waren von trockenen, lebensfeindlichen Kältesteppen, und nur in äquatornäheren Gebieten konnten Menschen in kleineren Verbänden als Jäger und Sammler überleben. In dieser Zeit war der Unterschied zwischen Süden (wo Menschen leben konnten) und Norden (wo sie es nicht konnten) gewaltig, aber innerhalb der bewohnten südlichen Breitengrade gab es nur unbedeutende Unterschiede zwischen Osten und Westen.
    Mit dem Ende der Eiszeit veränderte sich die Bedeutung der Geographie. Die Pole blieben natürlich kalt und der Äquator blieb heiß, aber in einem halben Dutzend Regionen, die zwischen diesen Extremen lagen – und die ich in Kapitel 2 als die ursprünglichen Kerngebiete bezeichnen werde –, entwickelten sich aufgrund einer besonders günstigen Verbindung von wärmerem Klima und örtlicher Geographie Pflanzen und/oder Tiere, die sich zur Domestizierung durch den Menschen eigneten. Die Domestizierung von Pflanzen und Tieren bedeutete mehr Nahrung, das bedeutete mehr Menschen, und das wiederum bedeutete mehr Innovationen. Domestizierung bedeutete aber auch mehr Druck auf eben jene Ressourcen, die den Prozess antrieben. Und schon war das Entwicklungsparadox in Gang gesetzt.
    Die Kernregionen waren relativ typische Beispiele für die wärmeren, bewohnbaren Gebiete während der Eiszeit, aber jetzt unterschieden sie sich zunehmend nicht nur vom Rest der Welt, sondern auch untereinander. Sie waren alle geographisch begünstigt, aber einige waren stärker begünstigt als andere. In einer der Kernregionen, auf den Hängen des Taurus- und des Zagrosgebirges im Westen Eurasiens, auch Fruchtbarer Halbmond genannt, gab es besonders viele domestizierbare Pflanzen und Tiere; und da sich Gruppen von Menschen im Wesentlichen gleichen, fanden hier, wo die Ressourcen reichlich und die Schwellen niedrig waren, die ersten Versuche der Domestizierung statt. Das war etwa 9500 v. u. Z.
    Im Einklang mit den üblichen Gepflogenheiten beziehe ich den Begriff »Westen« in diesem Buch auf alle Gesellschaften, deren Abstammung auf diese westlichsten (und frühesten) eurasischen Kerngebiete zurückzuführen ist. Vor langer |40| Zeit dehnte der Westen seine Grenzen vom ursprünglichen Zentrum in Vorderasien – dem Gebiet, das seit dem 19. Jahrhundert im angelsächsischen Raum etwas irreführend als »Mittlerer Osten« bezeichnet wird – über den Mittelmeerraum und Europa, in den letzten Jahrhunderten sogar bis hin zum amerikanischen Doppelkontinent und nach Australasien aus. Wie im Verlauf des Buches hoffentlich deutlich werden wird, ist die Definition des »Westens« in der genannten Weise (und nicht auf der Basis angeblich einzigartiger »westlicher« Werte wie Freiheit, Vernunft und Toleranz sowie der Diskussion darum, woher diese eigentlich stammen und in welchen Teilen der Erde sie vorhanden sind) ausschlaggebend für unser Verständnis der Welt, in der wir leben. Ich habe mir zum Ziel gesetzt zu erklären, warum eine bestimmte Gruppe von Gesellschaften, die vom ursprünglichen westlichen Kerngebiet abstammen – allen voran die

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