Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Historiker nicht in dieser Weise zur Geschichte. Vielmehr richten sie auf der Suche nach Erklärungen den Blick auf die Kultur, auf Überzeugungen, Werte, Institutionen oder auf den schieren Zufall anstatt auf die harte Oberfläche der materiellen Wirklichkeit, und die meisten von ihnen würden sich eher die Zunge abbeißen, als von Gesetzmäßigkeiten zu sprechen. Doch ihren Argumenten zum Trotz gehe ich in Kapitel 12 noch einen Schritt weiter und behaupte, dass uns die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte eine recht gute Vorstellung davon vermitteln, was als Nächstes geschehen wird. Die Geschichte |45| endet nicht mit der Vormachtstellung des Westens. Noch entfalten das Entwicklungsparadox und die Vorteile der Rückständigkeit ihre Wirkung; das Tauziehen zwischen den Kräften der Erneuerung, die die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben, und jenen zerstörerischen Kräften, die sie behindern, ist noch im Gange. Ich behaupte sogar, dass der Kampf erbitterter ist denn je. Neue Formen der Entwicklung und der Zerstörung drohen nicht nur die geographische, sondern auch die biologische und die soziologische Landschaft grundlegend zu verändern. Die große Frage unserer Zeit stellt sich nicht danach, ob der Westen seine Vormachtstellung auch weiterhin wird halten können, sondern danach, ob die Menschheit insgesamt den Durchbruch zu einer vollkommen anderen Seinsweise schafft, bevor uns die Katastrophe ereilt – und uns für immer erledigt.
|47| Kapitel 1
Bevor es Osten und Westen gab
Was ist der Westen?
»Wenn ein Mensch Londons überdrüssig ist«, heißt es bei Samuel Johnson, »ist er des Lebens überdrüssig; denn in London gibt es alles, was das Leben bieten kann.« 1 Das war 1777, und jeder Gedankenblitz, jede glänzende neue Erfindung belebte Johnsons Heimatstadt zusätzlich. London hatte Kathedralen und Paläste, Parks und Flüsse, herrschaftliche Viertel und Slums. Und, vor allem, man konnte einkaufen – Dinge nämlich, die sich frühere Generationen auch in ihren wildesten Fantasien nicht hätten träumen lassen. Direkt vor den neuen Arkaden der Oxford Street konnten die feinen Damen und Herren aus ihren Kutschen steigen, konnten dort nach Neuheiten stöbern, nach einem Schirm etwa, einer Erfindung der 1760er Jahre, die den Engländern rasch unverzichtbar wurde, vielleicht auch nach einer Handtasche oder nach Zahnpasta, auch das Novitäten dieser Jahre. Es waren aber nicht nur die Reichen, die sich dieser neuen Kultur des Konsums hingaben. Auch Geschäftsleute verbrachten, zum Entsetzen der Konservativen, Stunden in den Kaffeehäusern, die Armen nannten ihren Tee »unverzichtbar« 2 , und Landfrauen legten sich Klaviere zu.
Damals entwickelten die Engländer die Vorstellung, dass sie anders seien als andere Völker. Der schottische Gelehrte Adam Smith hatte sie 1776, in seinem
Wohlstand der Nationen
, ein Volk von Krämern genannt, und er glaubte, ihnen damit ein Kompliment zu machen. Weil sich jeder von ihnen derart um seinen eigenen Wohlstand sorgte, würden, so Smith, alle reicher. Und er erinnerte an den Gegensatz zwischen Großbritannien und China. Dieses »zählte lange zu den reichsten Ländern der Erde, überaus fruchtbar, der Boden bestens kultiviert, die Menschen sehr fleißig und zahlreich«, habe aber den Wohlstand erlangt, den zu erreichen »Gesetze und Einrichtungen des Landes« erlaubten. Nun steckten die Chinesen fest. Ihr Wohlstand, so Smith, werde durch die »Konkurrenz der Arbeiter und die Interessen der Unternehmer … bald auf das niedrigste Niveau [herabgedrückt], das sich mit unseren Vorstellungen über Humanität noch eben vereinbaren lässt«. In China übertreffe die Armut der niederen Stände noch »bei weitem die der bettelhaftesten Völker Europas. … Auch für Aas, beispielsweise den Kadaver eines Hundes oder einer Katze, halb verwest und stinkend, sind sie genauso dankbar wie die Menschen anderer Länder für das zuträglichste Essen.« 3 |48| Johnson und Smith hatten ja nicht Unrecht. Kaum war die industrielle Revolution in den 1770er Jahren in Gang gekommen, schon lagen die durchschnittlichen Einkommen in England höher und waren gleichmäßiger verteilt als in China. Ein Faktum, auf das sich Theorien stützen, die zeigen wollen, dass die westliche Vorherrschaft über lange Perioden determiniert ist. Die Führungsrolle des Westens sei, so ihr Argument, die Voraussetzung der industriellen Revolution gewesen und nicht deren Folge, und darum müssten wir, wenn wir
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