Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
erzwingen, manchmal auch daran, dass geographische Faktoren, die in der einen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung keine wesentliche Rolle spielen, zu einem anderen Zeitpunkt von entscheidender Bedeutung sein können.
Beispielsweise war es vor 5000 Jahren ein großer geographischer Nachteil für Portugal, Spanien, Frankreich und Britannien, dass sie am äußersten Rand Europas in den Atlantik hineinragten, weil sie auf diese Weise sehr weit weg waren vom Zentrum des Geschehens in Mesopotamien und Ägypten. 1* Viereinhalb Jahrtausende später war die gesellschaftliche Entwicklung so weit fortgeschritten, dass sich die Bedeutung der geographischen Bedingungen verändert hatte. Inzwischen |42| gab es Schiffe, mit denen man Routen über die Meere nehmen konnte, die bis dahin unvorstellbar gewesen waren, wodurch die europäische Randlage am Atlantischen Ozean plötzlich zu einem gewaltigen Pluspunkt wurde. Es waren keine ägyptischen oder irakischen, sondern portugiesische, spanische, französische und englische Schiffe, die als Erste nach Amerika, China und Japan segelten. Es waren Westeuropäer, die mit ihren Seehandelswegen die Teile der Welt verbanden. Die gesellschaftliche Entwicklung schritt rasant voran, sodass Westeuropa das ältere Kerngebiet im östlichen Mittelmeerraum bald überflügelt hatte.
Ich bezeichne dieses Muster, das so alt ist wie die gesellschaftliche Entwicklung selbst, als die »Vorteile der Rückständigkeit« 2* 12 . Als beispielsweise aus Dorfgemeinschaften, die vom Ackerbau lebten, Städte wurden (im Westen um 4000, im Osten um 2000 v. u. Z.), spielten die Bodenverhältnisse und die klimatischen Bedingungen, die für die ursprüngliche Entwicklung der Landwirtschaft so förderlich gewesen waren, plötzlich eine geringere Rolle als der Zugang zu Flüssen, die für die Bewässerung der Felder angezapft oder als Transportwege benutzt werden konnten. Und als immer größere Staaten entstanden, trat die Bedeutung großer Flüsse in den Hintergrund; was nun zählte, waren längere Handelswege, die Verfügbarkeit von Metallen und von Arbeitskraft. In dem Maße, in dem sich die gesellschaftliche Entwicklung wandelt, verändern sich auch die Ressourcen, die sie benötigt, und Regionen, die lange Zeit wenig Beachtung fanden, stellen plötzlich fest, dass ihre Rückständigkeit durchaus Vorteile mit sich bringt.
Es ist immer schwer vorauszusagen, wohin die Vorteile der Rückständigkeit führen: Rückständigkeit ist nicht gleich Rückständigkeit. Vor vierhundert Jahren fanden die meisten Europäer die blühenden Plantagen der karibischen Inseln wesentlich vielversprechender als die Farmen in Nordamerika. Zwar können wir im Nachhinein erkennen, warum aus Haiti das ärmste und aus den USA das reichste Land der westlichen Welt wurde, aber solche Entwicklungen vorauszusagen ist ungleich viel schwerer.
Ein offenkundiger Vorteil der Rückständigkeit war jedoch die Tatsache, dass sich innerhalb der einzelnen Kerngebiete die am weitesten entwickelte Region mit der Zeit verlagerte. Im Westen bewegte sie sich von den Hängen des Taurus- und des Zagrosgebirges (zur Zeit der ersten Ackerbaukulturen) südwärts in die Flusstäler Mesopotamiens und Ägyptens, als sich Staaten herauszubilden begannen, und westwärts in den Mittelmeerraum, als die großen Weltreiche entstanden. Im Osten verlagerte sie sich von dem Gebiet zwischen Gelbem Fluss und Jangtse nordwärts ins eigentliche Tal des Gelben Flusses und von da aus westwärts in die Gegend des Wei-Flusses und des Qin-Ling-Gebirges.
Das Vorteilsprinzip der Rückständigkeit hatte außerdem zur Folge, dass die westliche Vorreiterrolle bei der gesellschaftlichen Entwicklung Schwankungen |43| unterworfen war, was zum einen daran lag, dass die lebenswichtigen Ressourcen (Wildpflanzen und -tiere, Flüsse, Handelswege und Arbeitskraft) in den Kernregionen unterschiedlich verteilt waren, und zum anderen daran, dass in beiden westlichen Kernregionen der Prozess der Ausdehnung und der Inbesitznahme neuer Ressourcen so gewalttätig und unbeständig verlief, dass sich das Entwicklungsparadox zuspitzte. Durch die Ausdehnung der westlichen Reiche im zweiten Jahrtausend v. u. Z. wurde das Mittelmeer nicht nur zu einer bequemen Route für den Handel, sondern auch zu einem Weg für zerstörerische Kräfte. Um 1200 v. u. Z. gerieten die westlichen Staaten aus dem Ruder, und Zuwanderungen, schlechte Regierungsführung, Hungersnöte und Epidemien führten einen
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