Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
Vom Netzwerk:
ist, dass die Movius-Linie eben nicht die Grenze zwischen einem technisch avancierten Westen und einem weniger fortgeschrittenen Osten markiert, sondern nur die westlichen Regionen, in denen die Art Steine, die man für Faustkeile braucht, leicht zu finden sind, von solchen östlichen Gebieten trennt, in denen diese Steine selten sind und in denen sich brauchbare Alternativen boten – Bambus etwa, der zwar widerstandsfähig ist, sich aber doch nicht so lange erhält, dass wir aus Bambus gefertigte Werkzeuge ausgraben könnten. Nach dieser Interpretation müssen Faustkeilnutzer, nachdem sie über die Movius-Linie hinweg gelangt waren, die Werkzeuge des Acheuléen nach und nach aufgegeben haben, weil sie unbrauchbar gewordene nicht ersetzen konnten. Allerdings stellten sie weiterhin Chopper und Abschläge her, denn dazu lassen sich Geröllsteine (
pebbles
) aller Art verwenden; möglicherweise nutzten sie zunehmend auch Bambus für Aufgaben, die zuvor mit Faustkeilen verrichtet wurden.
    Einige Archäologen glauben, Funde aus dem Bose-Becken in Südchina stützten derartige Überlegungen. Vor rund 800   000 Jahren ging hier ein riesiger Meteor nieder: ein Unglück epischen Ausmaßes. In heftigen Feuerstürmen verbrannten zehntausende Hektar Wald. Vor dem Einschlag haben im Bose-Becken lebende Affenmenschen Chopper, Abschläge und (vermutlich) Bambus genutzt – so wie andere Gruppen in Ostasien auch. Doch als sie nach den Bränden zurückkehrten, begannen sie, Faustkeile in der Art des Acheuléen zu fertigen – möglicherweise, so die Theorie, weil die Feuersbrünste den Bambus restlos vernichtet und zugleich verwertbares Gestein freigelegt hatten. Nach einigen Jahrhunderten, nachdem sich die Vegetation wieder erholt hatte, gaben die Bewohner dort die Faustkeilproduktion auf und kehrten zum Bambus zurück.
    Sollten diese Überlegungen zutreffen, waren die Affenmenschen Ostasiens bestens in der Lage, Faustkeile herzustellen, wenn die Umstände dies begünstigten. Meist aber machten sie sich diese Mühe nicht, weil es Möglichkeiten gab, mit geringerem Aufwand an Werkzeuge zu kommen. Faustkeile aus Stein und Werkzeuge aus Bambus waren unterschiedliche Geräte, mit denen sich aber das Gleiche tun ließ. Kurz: Alle Gruppen der Affenmenschen lebten auf mehr oder weniger gleiche Weise, ob sie sich nun in Marokko oder in Malaysia befanden.
    Das erscheint durchaus plausibel, doch wir bewegen uns im Gebiet der prähistorischen Archäologie, und da lassen sich Dinge immer auf mehrere Weisen betrachten, auch die Movius-Linie. Bislang habe ich es vermieden, den Affenmenschen, die Acheuléen-Faustkeile benutzt haben, Namen zu geben. Von diesem Punkt an jedoch macht es einen Unterschied, mit welchen Namen wir sie belegen.
    Seit den 1960er Jahren heißt die neue Spezies, die sich in Afrika vor rund 1,8 Millionen Jahren entwickelt hat, bei den meisten Paläoanthropologen
Homo erectus
( »aufrechter Mensch«). Sie vermuten, dass diese Geschöpfe durch die subtropischen |58| Breiten an die Küste des Stillen Ozeans wanderten. In den 1980er Jahren jedoch lenkten einige Experten ihre Aufmerksamkeit auf kleine Unterschiede zwischen den Schädeln des
Homo erectus
, die in Afrika, und solchen, die in Ostasien gefunden wurden. Weil sie davon ausgingen, es tatsächlich mit zwei verschiedenen Arten von Affenmenschen zu tun zu haben, prägten sie einen neuen Namen, nämlich
Homo ergaster
( »arbeitender Mensch«), für diejenigen, die sich in Afrika vor 1,8 Millionen Jahren entwickelt und dann bis nach China verbreitet haben. Erst als
Homo ergaster
Ostasien erreicht habe, so argumentierten sie, hat sich
Homo erectus
aus dieser Art entwickelt.
Homo erectus
wäre demzufolge eine rein asiatische Spezies, zu unterscheiden von
Homo ergaster
, der Afrika, Südwestasien und Indien besiedelte.
    Sollte diese Theorie zutreffen, würde die Movius-Linie nicht nur den trivialen Unterschied von Werkzeugtypen markieren, sondern eine genetische Wasserscheide, die die frühen Affenmenschen in zwei Linien teilte. Damit hätten wir so etwas wie die Mutter aller Theorien langfristiger Determination: Osten und Westen sind unterschiedlich, weil im Osten und im Westen – und zwar seit über einer Million Jahren – zwei unterschiedliche Arten von Menschen leben.
    Die ersten Bewohner des Ostens: der Peking-Mensch
    Die Fachdebatte über die Klassifikation prähistorischer Skelette hat alarmierende Implikationen. Nur zu gern stürzen sich Rassisten auf solche Details,

Weitere Kostenlose Bücher