Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
bis 35 Grad nördlicher Breite in der Alten, 15 Grad südlicher bis 20 Grad nördlicher Breite in der Neuen Welt), in dem sich eine Fülle großer, domestizierbarer Pflanzen und Tiere entwickelten. Innerhalb dieses breiten Streifens war eine Region in Südwestasien, der so genannte Fruchtbare Halbmond, ganz besonders begünstigt. Da dieses Gebiet die größte Konzentration domestizierbarer Pflanzen aufwies, war der Übergang vom Jagen und Sammeln zum Ackerbau für die Menschen, die hier lebten, einfacher als anderswo. Und da Menschen (als Gruppe gesehen) überall ziemlich gleich sind, waren die Bewohner des Fruchtbaren Halbmondes die Ersten, die in Dörfern sesshaft wurden, Pflanzen kultivierten und Tiere domestizierten, und zwar schon vor 9000 v. u. Z. Auf diese ersten Ackerbauerkulturen gehen die westlichen Gesellschaften zurück. Etwa 2000 Jahre später beschritten die Menschen im heutigen China – wo es ebenfalls domestizierbare Pflanzen und Tiere in Hülle und Fülle gab, wenn auch nicht in ganz so dichter Konzentration wie im Fruchtbaren Halbmond – den gleichen Weg; auf sie gehen die Gesellschaften des Ostens zurück. Im Laufe der folgenden Jahrtausende begannen Menschen in verschiedenen Teilen der Welt unabhängig voneinander, Pflanzen zu kultivieren und/oder Tiere zu domestizieren, und jedesmal stießen sie damit in ihrer Region eine Entwicklung an.
Weil die Bewohner des Westens die Ersten waren, die Ackerbau betrieben, und weil sich Menschen (als Gruppe gesehen) ziemlich ähnlich sind, waren es auch die Bewohner des Westens, die das Entwicklungsparadox als Erste ernsthaft zu spüren bekamen und die Erfahrung machten, was es mit dem Vorteil der Rückständigkeit auf sich hat. Die fortschreitende gesellschaftliche Entwicklung zog eine Bevölkerungszunahme, eine aufwändigere Lebensweise, mehr Wohlstand und größere militärische Stärke nach sich. Durch eine Verbindung von Kolonisation und Nachahmung dehnten sich relativ hoch entwickelte Gesellschaften auf Kosten von Kulturgruppen mit einem niedrigeren Entwicklungsstand aus, und der Ackerbau fasste im weiten Umkreis Fuß. Um den Ackerbau auf Gebiete wie die sengend heißen Flusstäler Mesopotamiens auszuweiten, musste er praktisch neu erfunden werden, und indem die Bauern ein System zur Bewässerung ihrer Felder entwickelten, begründeten sie in dieser zuvor rückständigen Randregion eine blühende Landwirtschaft, die selbst die ursprüngliche Kernregion im weiter nördlich gelegenen Fruchtbaren Halbmond in den Schatten stellte. Und während die großen Ackerbausiedlungen im übervölkerten Fruchtbaren Halbmond nach 4000 v. u. Z. Mühe hatten zurechtzukommen, fanden die Mesopotamier Mittel und Wege, ihr Leben in Städten und Staaten zu organisieren. Rund 2000 Jahre später wiederholte sich der gleiche Prozess im Osten, wo das Entwicklungsparadox in den Seitentälern des Gelben Flusses ähnliche Vorteile der Rückständigkeit offenbarte.
|538| Die neu gebildeten Staaten mussten neue Wege des Umgangs mit ihren Nachbarn finden, was dazu führte, dass in ihren Grenzregionen noch destruktivere Entwicklungsparadoxe zutage traten. Wenn es ihnen nicht gelang, diese zu beherrschen – wie möglicherweise im mesopotamischen Uruk um 3100 v. u. Z. und im chinesischen Taosi um 2300 v. u. Z. sowie definitiv im Westen nach 2200 und 1750 v. u. Z. –, dann versanken sie im Chaos. Ein solcher Zusammenbruch ging stets mit einer Phase klimatischer Veränderungen einher, diesem apokalyptischen Reiter, der sich als fünfter im Bunde den vier von Menschen geschaffenen Reitern der Apokalypse hinzugesellte.
Die zunehmende gesellschaftliche Entwicklung führte zu noch schlimmeren Erschütterungen und Zusammenbrüchen, aber sie brachte auch stärkere Widerstandskräfte mit sich. Nach 1550 v. u. Z. erholten sich die Städte und Staaten des Westens von den erlittenen Katastrophen und dehnten sich im östlichen Mittelmeergebiet aus. Hier kam ein weiterer entscheidender geographischer Unterschied zwischen Osten und Westen ins Spiel: Im Osten gab es kein vergleichbares Binnenmeer, das für so billige und einfache Transportwege gesorgt hätte. Aber das Mittelmeer war, wie so vieles, ein Paradox, das sowohl Möglichkeiten als auch Gefahren barg. Als die gesellschaftliche Entwicklung bei etwa 24 Punkten angelangt war, gerieten die zerstörerischen Kräfte in diesem nach allen Seiten offenen Randgebiet außer Kontrolle, und um 1200 v. u. Z. jagten die apokalyptischen Reiter wieder
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