Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
verseuchten mit ihren giftigen Abwässern nach Belieben große Flüsse; die Krebsraten entlang dieser Wasserwege waren häufig doppelt so hoch wie im nationalen Durchschnitt. Andere Flüsse, deren Wasser für eine ebenso unregulierte Landwirtschaft abgezapft wurde, versiegten vollständig. Die Abholzung kannte keine Einschränkungen mehr, die Wüsten breiteten sich doppelt so schnell aus wie in den 1970er Jahren. Die Proteste gegen die Inkompetenz der Regierung und eine endemische Korruption wurden zunehmend gewalttätig; seit der Jahrtausendwende verzeichnete die Polizei pro Jahr etwa 25 000 »Massenvorkommnisse« und weit mehr kleinere Krawalle.
|532| Andererseits besiegte Dengs Programm den Hunger und legte den Grundstein für große Einkommenszuwächse. Die Landbevölkerung, die noch immer zwei Drittel der chinesischen Bevölkerung ausmacht, erlebte im nationalen Schnitt ein Reallohnplus von etwa sechs Prozent im Jahr. Allerdings konzentrierten sich Gewinne auf die Regionen entlang der Ostküste, in schmutzstarrenden Dörfern des Hinterlandes kamen sie nicht an oder wurden gar durch den Niedergang von Maos rudimentärer, aber freier Bildung und Gesundheitsversorgung häufig zunichte gemacht. Ein Ergebnis war die größte Migration der Geschichte: Seit den 1990er Jahren sind 150 Millionen Menschen in die Städte gezogen, diese Wanderarbeiter haben jedes Jahr das Äquivalent eines neuen Chicagos geschaffen. Der Umzug in die Stadt erhöhte das Einkommen eines durchschnittlichen Bauern um 50 Prozent, während die Fabriken auf diese Weise Arbeitskräfte zu einem Bruchteil der Arbeitskosten von reichen Ländern bekamen.
Zwischen 1992 und 2007 stiegen Chinas Exporte um das Zwölffache und sein Überschuss im Handel mit den USA explodierte von 18 auf 233 Milliarden Dollar. Im Jahr 2008 füllten chinesische Waren in amerikanischen Discountern wie Wal-Mart gewöhnlich 90 Prozent der Regalflächen. Ein Amerikaner, der morgens nicht zumindest ein in China hergestelltes Kleidungsstück anzog, hatte Seltenheitswert. Das Magazin
Business Week
schrieb: »Der chinesische Preis« – diese drei Wörter seien die furchterregendsten in der amerikanischen Industrie. »Senke deine Preise um mindestens 30 Prozent oder du verlierst deine Kunden.« 71
Ein halbes Jahrhundert früher hatte Mao behauptet: »Gegenwärtig … übertrifft der Westwind nicht mehr den Ostwind, sondern der Ostwind hat über den Westwind die Oberhand gewonnen.« 72 Damals machte er sich etwas vor. In den 1950er Jahren stand der Osten stark unter den Fittichen des Westens, der zwischen sowjetischer und amerikanischer Sphäre geteilt war. Doch bis zum Jahr 2000 begannen Maos Worte wahr zu werden, wenn auch nicht so, wie er gedacht hatte. Die gesellschaftliche Entwicklung im Westen war jener des Ostens weiter voraus denn je – um über 300 Punkte –, aber während das Verhältnis zwischen der westlichen und östlichen Punktzahl zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch bei etwa zweieinhalb zu eins gelegen hatte, betrug es ein Jahrhundert später, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nur etwas über anderthalb zu eins. Das 20. Jahrhundert war zugleich der Gipfel des westlichen Zeitalters und der Beginn seines Endes.
|533| Kapitel 11
Warum der Westen regiert …
Die Stationen der Geschichte
Dass der Westen regiert, ist eine Frage der Geographie. Die Biologie sagt uns, warum Menschen die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben; die Soziologie sagt uns, wie sie dies tun; und die Geographie sagt uns, warum ausgerechnet der Westen und nicht irgendeine andere Region in den letzten 200 Jahren die Welt beherrschte. Biologie und Soziologie liefern Gesetze, die für alle Menschen zu jeder Zeit an jedem Ort Gültigkeit haben; die Geographie erklärt die Unterschiede.
Von der Biologie lernen wir, dass wir Tiere sind und wie alles Lebendige nur existieren können, weil wir unserer Umgebung Energie entziehen. Wenn uns Energie fehlt, werden wir träge und sterben schließlich; wenn wir sie ausreichend ausbeuten, vermehren wir uns und breiten uns aus. Wie andere Tiere sind wir neugierig, aber auch habgierig, faul und ängstlich. Wir unterscheiden uns von ihnen nur durch die Werkzeuge und Instrumente, mit denen wir unsere Ziele verfolgen – die größere Denkfähigkeit, die elastischeren Stimmbänder und die opponierbaren Daumen, die uns die Evolution bescherte. Indem wir uns dieser Instrumente bedienten, haben wir der Natur in einer Weise unseren Willen aufgezwungen, wie es kein
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