Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
keine Ahnung vom Jagen und Sammeln habe, würde ich höchstwahrscheinlich verhungern oder mich vergiften. Ein paar Menschen aus meinem Umfeld würden stark, ziemlich viele dagegen nur marginal in Mitleidenschaft gezogen. Sie zum Beispiel müssten sich eine andere Lektüre suchen, was Sie gewiss nicht weiter erschüttern würde. Aber abgesehen davon würde sich die Welt weiterdrehen. Keine Entscheidung, die zu treffen in meiner Macht stünde, wäre von Einfluss auf die Frage, ob der Westen regiert.
Wenn natürlich Millionen von Amerikanern gemeinsam mit mir beschließen würden, ihren Achtstundenjob zu schmeißen und sich ihr Essen selbst zusammenzuklauben, dann wäre meine Entscheidung keine skurrile persönliche Geistesverwirrung mehr, sondern es wäre eine (wenn auch immer noch skurrile) Massenbewegung daraus geworden, die durchaus etwas verändern würde. Für Massenentscheidungen dieser Art gibt es jede Menge Beispiele. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges entschied sich beispielsweise eine halbe Milliarde Frauen dafür, früher zu heiraten und mehr Kinder zur Welt zu bringen als ihre Mütter. Die Bevölkerungszahlen schossen in die Höhe. Dann, 30 Jahre später, beschloss eine ganze Milliarde Töchter dieser Frauen, das Gegenteil zu tun, und das Bevölkerungswachstum verlangsamte sich. Diese je individuellen Entscheidungen haben in der Summe den Gang der Gegenwartsgeschichte tatsächlich verändert.
Sie waren jedoch nicht einfach nur aus einer Laune geboren. Karl Marx hat es vor 160 Jahren auf den Punkt gebracht, als er schrieb: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.« 1 Im 20. Jahrhundert gab es für Frauen so viele gute Gründe, mehr statt weniger Kinder in die Welt zu setzen, dass sie oft meinten, gar keine |542| andere Wahl zu haben – so wie die Menschen, die vor 10 000 Jahren anfingen, Ackerbau zu betreiben, oder die sich vor 5000 Jahren in Städten ansiedelten oder die sich vor 200 Jahren als Fabrikarbeiter verdingten, sicher oft keine andere Alternative sahen.
Wir stehen grundsätzlich unter dem Druck, realistische Entscheidungen zu treffen. Jeder kennt Menschen, die sich diesem Druck entziehen und zu exzentrischen Entscheidungen finden. Viele mögen diese Idealisten, Rebellen und Romantiker bewundern, aber nur wenige sind bereit, ihrem Beispiel zu folgen. Die meisten von uns wissen nur zu gut, dass berechenbare und angepasste Menschen erfolgreicher sind (damit meine ich, dass sie leichteren Zugang zu Nahrung, Behausung und einem Partner haben) als die Anna Kareninas dieser Welt. Die evolutionäre Selektion begünstigt das, was wir gesunden Menschenverstand nennen.
Abgesehen davon können exzentrische Entscheidungen natürlich außergewöhnliche Früchte tragen. Nehmen wir nur Mohammed, eines der wohl extremsten Beispiele. Dieser einigermaßen unbedeutende arabische Kaufmann hätte um 610 u. Z. die Entscheidung treffen können, vernünftig zu sein und seine Begegnung mit dem Erzengel Gabriel als Folge einer Magenverstimmung zu deuten oder Dutzende anderer plausibler Gründe dafür verantwortlich zu machen. Stattdessen beschloss er, auf seine Frau zu hören, die ihm einredete, seine Vision sei Wirklichkeit. Jahrelang sah es so aus, als sei Mohammed das Schicksal fast aller Propheten beschieden: erst verspottet, dann geschmäht, schließlich vergessen. Doch stattdessen vereinte er die arabischen Stämme. Die Kalifen, die seine Nachfolge antraten, zerstörten das Persische und das Byzantinische Reich und spalteten die westliche Welt in zwei Teile.
Niemand wird bestreiten, dass Mohammed ein großer Mann war. Kaum ein Mensch hat die Geschichte der Menschheit so stark beeinflusst wie er. Trotzdem kann man die tiefgreifenden Veränderungen, die sich während des 7. Jahrhunderts und danach im westlichen Kerngebiet vollzogen, nicht allein auf seinen persönlichen Rang zurückführen. Die Araber hatten schon lange vor Mohammeds Heimsuchung durch den Erzengel Gabriel neue monotheistische Lehren erfunden und eigene Staaten in der Wüste gegründet. Das Byzantinische Reich und Persien waren schon schwer in Bedrängnis geraten, bevor muslimische Truppen ihre Grenzen überschritten, und im Mittelmeerraum war der Zerfallsprozess schon seit dem 3. Jahrhundert im Gange.
Hätte Mohammed eine andere Entscheidung getroffen, so wären die Christen im 7.
Weitere Kostenlose Bücher