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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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anderes Tier vermochte, haben immer mehr Energie aufgenommen und sie nutzbar gemacht, haben den Planeten mit unseren Dörfern, Städten, Staaten und Weltreichen überzogen.
    Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren viele Bewohner der westlichen Welt überzeugt, dass die Biologie die Antwort auf die Frage liefere, warum der Westen regiert. Die Rasse der weißhäutigen Europäer sei höher entwickelt als jede andere, behaupteten sie. Sie irrten. Zum einen liefern die genetischen Untersuchungen und Skelettfunde, von denen in Kapitel 1 die Rede war, eindeutige Beweise: Es gibt nur eine Art der Gattung
Homo
, die sich vor etwa 100   000 Jahren nach und nach in Afrika entwickelte, sich von dort aus in andere Teile der Welt ausbreitete und ältere dort lebende Arten verdrängte. Alle heute auf der Erde lebenden Menschen sind sehr nah miteinander verwandt, ihre genetischen Unterschiede minimal.
    Zum anderen würden die Kurven der gesellschaftlichen Entwicklung, die ich in den Kapiteln 4 bis 10 beschrieben habe, vollkommen anders aussehen, wenn weiße Europäer wirklich allen anderen genetisch überlegen wären. In diesem |534| Fall hätte der Westen zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Führung übernommen und diese fürderhin nie mehr abgegeben. Aber so war es natürlich nicht (Abbildung 11.1). Der Westen setzte sich gegen Ende der Eiszeit zwar an die Spitze, fiel aber zu manchen Zeiten zurück und preschte zu anderen wieder vor. Um 550 u. Z. musste er die Führung ganz an den Osten abgeben, der sie anschließend 1200 Jahre lang innehatte.
    Heute vertreten nur noch wenige Wissenschaftler die Rassentheorie von der genetischen Überlegenheit der europäischen Weißen. Wer daran festhalten möchte, wird darlegen müssen, wie es passieren konnte, dass die Bewohner des Westens im 6. Jahrhundert u. Z. ihre starken Gene einbüßten, um sie im 18. Jahrhundert plötzlich wiederzugewinnen – oder umgekehrt, wie es den Bewohnern des Ostens im 6. Jahrhundert gelang, überlegene Gene zu entwickeln, derer sie im 18. Jahrhundert wieder verlustig gingen. Und das wird, gelinde gesagt, kaum gelingen. Alles deutet darauf hin, dass sich die Menschen, wohin wir auch blicken, als Gruppe betrachtet ziemlich ähnlich sind.
    Wenn wir erklären wollen, warum der Westen regiert, müssen wir bei der Biologie anfangen, weil diese Disziplin uns erklärt,
warum
die Kurve der gesellschaftlichen Entwicklung angestiegen ist. Aber die Biologie allein kann die Frage nicht beantworten. Als Nächstes müssen wir die Soziologie heranziehen, die uns verrät,
wie
die gesellschaftliche Entwicklung diese enormen Fortschritte gemacht hat.
    Abbildung 11.1 zeigt, dass dies kein linearer Prozess war. In der Einleitung habe ich in Anlehnung an einen Gedanken des Science-Fiction-Autors Robert Heinlein ein »Morris-Theorem« verkündet, das den gesamten Verlauf der Geschichte erklärt: dass nämlich Veränderungen von faulen, habgierigen, furchtsamen Menschen bewirkt werden, die zur Bewältigung ihres Alltags nach leichteren, profitableren und sichereren Wegen suchen (wobei ihnen diese Suche oft genug nicht bewusst ist). Ich hoffe, dass ich diese Behauptung in den Kapiteln 2 bis 10 durch Fakten erhärten konnte.
    Die Menschen haben ständig herumexperimentiert, um sich das Leben zu erleichtern oder um ihren Wohlstand zu mehren, oder sie haben darum gekämpft, den einmal erreichten Lebensstandard zu erhalten, wenn sich die Zeiten änderten, und indem sie dies taten, haben sie im Allgemeinen die gesellschaftliche Entwicklung vorangetrieben. Aber keiner der großen Sprünge in der gesellschaftlichen Entwicklung – die Anfänge des Ackerbaus, die Entstehung von Städten und Staaten sowie von Weltreichen unterschiedlicher Ausprägung, die industrielle Revolution – war ein Produkt bloßen Herumexperimentierens. Sie geschahen stets im Gefolge schwerer Zeiten, die verzweifelte Maßnahmen erforderten. Am Ende der Eiszeit ging es den Jägern und Sammlern so gut, dass sie zur Belastung für die Ressourcen wurden, die sie versorgten. Der zunehmende Bedarf an Nahrung führte dazu, dass einige der zuvor gesammelten Pflanzen kultiviert und einige der zuvor gejagten Tiere domestiziert wurden. So wurden aus Jägern und Sammlern Ackerbauern. Manche der Ackerbauern waren so erfolgreich, dass die Ressourcen |535| erneut knapp wurden. Sie mussten – vor allem dann, als die klimatischen Bedingungen ungünstiger wurden – aus ihren Dörfern Städte und Staaten machen, um zu

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