Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
weitestgehend in den globalen Handel einbezogen sind, doch bereits auf diesem Weg. In den Provinzen Guangdong und Fujian etwa werden heute schon viele lokale Funktionäre direkt gewählt. |564| Und auch wenn die nationale Politik autoritär bleiben werde, so zeigten sich doch bereits die Herrschenden in Beijing offener gegenüber öffentlichen Angelegenheiten wie Naturkatastrophen, den Mängeln des Gesundheitswesens und der Korruption.
Viele Menschen aus dem Westen, die längere Zeit im Osten gelebt haben, finden allerdings dieses Beschwichtigungsszenario wenig überzeugend. Schließlich haben sich die Amerikaner, nachdem sie Europa als dominante Region des westlichen Entwicklungskerns abgelöst hatten, nicht etwa europäischer verhalten; vielmehr klagen die Europäer seither über die Amerikanisierung ihrer eigenen Kulturen.
Natürlich fanden Chinas urbane Eliten, nachdem sie in den 1980er Jahren in die amerikanisch dominierte globale Wirtschaft einbezogen worden waren, einige Aspekte der westlichen Kultur überaus attraktiv. Sie gaben den Mao-Look auf, eröffneten englischsprachige Schulen und schlürften (zeitweise) sogar Caffè latte bei Starbucks in der Verbotenen Stadt. Die überteuerten Bars in Beijings Altstadtviertel Hou Hai sind voller hyperaktiver Zwanzig- bis Dreißigjähriger, die, nicht anders als ihre Altersgenossen in New York oder London, mit ihren Blackberries Börsenkurse verfolgen. Die Frage aber ist, ob sich dieser Trend der Verwestlichung tatsächlich fortsetzt, wenn noch mehr Macht und Reichtum über den Pazifik abfließen.
Der Journalist Martin Jacques glaubt das nicht. Bereits jetzt könne man miterleben, wie sich etwas durchsetze, das er »umstrittene Modernitäten« nennt 12 . Damit meint er, dass die Ost- und Südasiaten die Muster von Industrialisierung, Kapitalismus und Liberalismus, die sich während des 19. Jahrhunderts im westlichen Kerngebiet entwickelt haben, ihren eigenen Bedürfnissen anverwandeln. In der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts werde, so Jacques’ Überlegung, die Vorherrschaft des Westens einer fragmentierten globalen Ordnung Platz machen. Für diesen Zeitraum erwartet er die Herausbildung mehrerer Währungszonen (Dollar, Euro und Renminbi) und ökonomisch-militärischer Einflusssphären (eine amerikanische in Europa, im Nahen Osten und vielleicht in Südasien; eine chinesische in Ostasien und Afrika), die jeweils von eigenen kulturellen Traditionen geprägt sein werden (euro-amerikanisch, konfuzianisch etc.). Dann aber, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, werden, so Jacques, Zahlen sprechen; China werde dominieren und die Welt östlicher werden.
Die sinozentrische Welt um 2100 werde ganz anders sein als die westliche Welt des 19. und 20. Jahrhunderts: vor allem hierarchischer. Die alte chinesische Vorstellung, nach der sich Fremde dem Reich der Mitte als tributpflichtige Bittsteller zu nähern hätten, werde westliche Theorien der nominellen Gleichheit von Staaten und Institutionen ablösen. Diese Welt werde illiberal sein, werde die westliche Rede von universellen Menschenrechten und Werten über Bord werfen, werde statisch sein und keine Opposition gegen die Macht der politisch Herrschenden zulassen. Rund um den Globus werde man die Errungenschaften der euro-amerikanischen |565| Vergangenheit vergessen, man werde kein Englisch mehr lernen, sondern Mandarin, Zheng He feiern und nicht Kolumbus, anstelle von Platon Schriften die von Konfuzius lesen und Männer der chinesischen Renaissance bewundern: Shen Kuo statt Leonardo.
Einige Strategen gehen davon aus, dass die globale Vorherrschaft Chinas der konfuzianischen Tradition friedlicher Staatskunst folgen, also weniger militärisch-aggressiv sein werde als die westliche. Die chinesische Geschichte gibt dazu jedoch keine eindeutigen Hinweise. Gewiss, in Teilen der chinesischen Elite (insbesondere im niederen Adel und unter Bürokraten) ist Krieg nie als genuines Mittel der Politik betrachtet worden, aber dennoch zieht sich auch durch die chinesische Vergangenheit eine Spur der Gewalt. Vor allem die Begründer und ersten Kaiser praktisch jeder Dynastie, ausgenommen die Song, sind bereitwillig in die Schlacht gezogen. Theoretiker der internationalen Beziehungen, die sich selbst als »Realisten« einschätzen, gehen allgemein davon aus, dass Chinas Zurückhaltung seit dem Koreakrieg mehr mit militärischer Schwäche zu tun hat als mit Konfuzius. Beijings Militärbudget ist seit 2006 jedes Jahr um 16 Prozent
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