Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
werden sie in 2020er Jahren über China wieder die Oberhand gewinnen.
Andere verweisen auf Chinas übergroße Probleme. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg, prognostizieren sie, werden die Löhne steigen und einige der Vorteile aufzehren, die China noch aus seiner Rückständigkeit zieht. Schon in den 1990er Jahren wanderten die einfachen Produktionsjobs von Chinas Küsten ins Landesinnere ab, inzwischen verließen sie China Richtung Vietnam, wo die Löhne noch niedriger sind. Die meisten Wirtschaftswissenschaftler begreifen das als natürlichen Vorgang auf Chinas Weg der Integration in die globale Wirtschaft; einige aber sehen darin auch erste Zeichen dafür, dass China seinen Vorsprung einbüßen werde.
Andere China-Kritiker halten die demographische Entwicklung für eine noch größere Herausforderung. Aufgrund niedriger Geburten- und Einwanderungsraten nimmt das Durchschnittsalter der chinesischen Bevölkerung schneller zu als das der Amerikaner. Und so würden um 2040 die Ansprüche der älteren Generationen auf Chinas Wirtschaft schwerer lasten als auf der amerikanischen. Auch schwindende natürliche Ressourcen könnten das Wirtschaftswachstum bremsen, die Spannungen zwischen den boomenden Städten und dem daniederliegenden Land könnten sich verschärfen. Damit würde die Unruhe in der Bevölkerung, die heute bereits wachse, außer Kontrolle geraten. In der langen chinesischen Geschichte haben ethnische Aufstände, gewaltsame Proteste gegen Korruption und Umweltkatastrophen etliche Dynastien zusammenbrechen lassen; das könnte in naher Zukunft auch wieder geschehen. Und sollte die Kommunistische Partei |563| stürzen, könnte das Land auseinanderbrechen, so wie es auseinanderbrach, als die Dynastien der Han, der Tang, der Yuan und der Qing stürzten. Die beste Analogie für das China von 2020 wären dann nicht die USA von 1920, die den Reichtum der alten Welt einsaugten, sondern das China, das ab 1920 im Bürgerkrieg versank.
Zuletzt gibt es noch die einflussreiche Gruppe der westlichen Doctores Pangloss, die alle diese Vermutungen für gegenstandslos erklären. Dem typischen Westeuropäer des Jahres 2000 gehe es, obwohl im 20. Jahrhundert Macht und Reichtum über den Atlantik abgeflossen seien, besser als seinen Vorfahren zur Hochzeit des europäischen Imperialismus – die steigende Flut des Kapitalismus habe eben alle Schiffe angehoben. Und im 21. Jahrhundert werde der Sog über den Pazifik wiederum jedermanns Schiffe anheben. Angus Maddison – oben mit seiner Berechnung zitiert, nach der Chinas Bruttoinlandsprodukt das der USA im Jahr 2020 übersteigen werde – geht davon aus, dass sich die Einkommen in China zwischen 2003 und 2030 auf durchschnittlich 18 991 US-Dollar pro Person und Jahr verdreifachen, die der US-Amerikaner dagegen nur um 50 Prozent steigen werden. Doch wegen der höheren Ausgangslage werde der Durchschnittsamerikaner 2030 noch immer 58 722 US-Dollar jährlich verdienen, das Dreifache des typischen Chinesen. 8 Noch optimistischer argumentiert Robert Fogel, der Chinas Wirtschaft die der USA 2016 überholen sieht. Im Jahr 2040, so rechnet er uns vor, würden die chinesischen Durchschnittseinkommen erstaunliche 85 000 US-Dollar erreichen; die amerikanischen lägen dann aber bei 107 000 US-Dollar. 9 1*
Am meisten nach Pangloss aber klingt, was der Journalist James Mann das »Soothing Scenario« (Beschwichtigungsszenario) genannt hat: Der wachsende Wohlstand werde, was immer sonst geschehe, den Osten verwestlichen. 10 Damit wäre die Frage, ob der Westen die Welt weiter regiere, gegenstandslos, denn dann wäre ja die ganze Welt »Westen«. »Handelt frei mit China«, drängte George W. Bush 1999, »und die Zeit wird auf unserer Seite sein.« 11
Das Argument läuft darauf hinaus, dass es nur einen Weg gibt, die moderne globale Wirtschaft zum Blühen zu bringen: Man müsse bloß für liberale und demokratische Rahmenbedingungen sorgen, so wie sie im westlichen Kerngebiet schon existieren. Japan, Taiwan, Südkorea und Singapur – haben sie sich nicht alle, als ihr Wohlstand gegen Ende des 20. Jahrhunderts zunahm, von einer Einparteienherrschaft zu mehr oder weniger demokratischen Regierungsformen entwickelt? Und wenn sich die Kommunistische Partei Chinas schon dazu durchgerungen hat, den Kapitalismus zu übernehmen, dann wird sie sich über kurz oder lang auch der Demokratie nicht mehr versagen. Schließlich befänden sich die Regionen der Volksrepublik, die inzwischen
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