Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
gewachsen und wird in den 2020er Jahren mit dem amerikanischen gleichziehen. Es ist also nicht ausgemacht, ob nicht der Aufstieg des Ostens zur Weltherrschaft im 21. Jahrhundert noch blutiger ausfallen wird als der des Westens im 19. und 20. Jahrhundert.
So also steht es. Vielleicht können große Frauen und Männer die Vorherrschaft des Westens noch für einige Generationen sichern, vielleicht werden Stümper und Idioten in China dessen Aufstieg noch eine Weile verzögern. Vielleicht wird der Osten verwestlicht, vielleicht der Westen veröstlicht. Vielleicht treffen wir uns alle im
global village
wieder, vielleicht gehen wir auch alle unter im
clash of civilizations
. Vielleicht sind am Ende alle reicher, vielleicht verbrennen wir uns gegenseitig in einem dritten Weltkrieg.
Angesichts dieses Durcheinanders sich widersprechender Prognosen fällt mir nur die Geschichte wieder ein, von der am Anfang von Kapitel 4 schon die Rede gewesen ist: die Geschichte vom Elefanten und den vier Blinden, die jeder glaubten, etwas anderes in der Hand zu haben. An jener Stelle des Buchs habe ich behauptet, es gebe nur einen Weg zu erklären, warum der Westen die Welt regiert – nämlich mit einem Index gesellschaftlicher Entwicklung ein wenig Übersicht zu schaffen. Und nun behaupte ich, dass der Rückgriff auf diesen Index uns auch zu erkennen hilft, wie der Elefant in 100 Jahren aussehen wird.
2103
Wenden wir uns noch einmal der Abbildung 12.1 zu, insbesondere dem Punkt, an dem sich die Linien für Ost und West kreuzen, dem Jahr 2103 also. Dann wird, wie die vertikale Achse zeigt, die gesellschaftliche Entwicklung bei über 5000 Indexpunkten stehen.
|566| Eine erstaunliche Zahl. 14 000 Jahre liegen zwischen dem Ende der Eiszeit und dem Jahr 2000, und in diesem Zeitraum ist die gesellschaftliche Entwicklung um gerade mal 900 Punkte gestiegen. In den kommenden 100 Jahren, so zeigt es Abbildung 12.1, soll sie um
weitere 4000 Punkte
steigen. 900 Punkte brachten uns von den Höhlenmalereien in Altamira ins Atomzeitalter. Wohin werden uns dann weitere 4000 Punkte führen? Das, so scheint mir, ist die eigentliche Frage. Wir können nicht verstehen, was auf Chimerica folgt, wenn wir keine Vorstellung davon haben, wie die Welt auf dem Stand von 5000 Indexpunkten aussehen wird.
In einem 2000 geführten Interview hat Jeremy Rifkin gesagt: »Unsere Art zu leben wird sich wahrscheinlich in den nächsten Jahrzehnten gründlicher verändern als in den vergangenen 1000 Jahren.« 13 Das klingt übertrieben, doch sollte Abbildung 12.1 tatsächlich wiedergeben, wie die zukünftige Entwicklung aussieht, ist Rifkins Behauptung eine gewaltige Untertreibung. Zwischen 2000 und 2050, so zeigt es die Grafik, wird die gesellschaftliche Entwicklung doppelt so hoch steigen wie in den vorangegangenen 15 000 Jahren. Und im Jahr 2103 wird sie sich erneut verdoppelt haben. Welch ein Hohn auf die Geschichte!
Angesichts dieser Entwicklung fallen alle Prognosen, die ich im vorigen Abschnitt dargestellt habe, in sich zusammen. Alle sind sie Extrapolationen aus der Gegenwart in die nahe Zukunft, und alle kommen sie – kaum überraschend – zu dem Ergebnis, dass die Zukunft nicht viel anders aussehen wird als die Gegenwart. Die größte Veränderung wäre demnach ein reiches China. Bringen wir stattdessen das Gewicht der gesamten Geschichte ins Spiel – will sagen: sprechen wir mit dem Geist des Vergangenen –, dann können wir nicht übersehen, dass die anstehende Welle gesellschaftlicher Entwicklung ohne Beispiel ist.
Man male sich aus, was ein Sprung von 5000 Indexpunkten für die gesellschaftliche Entwicklung bedeuten muss – es ist schwindelerregend. Nehmen wir einmal an, diese Punkte verteilten sich auch 2103 nicht anders auf die vier Merkmale Energieausbeute, Verstädterung, Informationstechniken und Kapazitäten der Kriegführung als um 2000 1* , dann wird es in 100 Jahren Städte mit 140 Millionen Einwohnern geben (man stelle sich Tokio, Mexico City, New York, São Paolo, Mumbai, Delhi und Shanghai als ein einziges Gebilde vor), in der ein Durchschnittsbewohner 1,3 Millionen Kilokalorien pro Tag aufnimmt.
Noch schwerer vorstellbar ist eine fünffache Steigerung der Kapazität, Kriege zu führen. Wir verfügen schon jetzt über genügend Waffen, um die Welt mehrfach komplett zu zerstören. Also wird das 21. Jahrhundert wahrscheinlich nicht nur vervielfältigte Atomsprengköpfe, Bomben und Geschütze erleben, sondern eher Technologien, die die
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