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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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Präsidenten, dass ein Supersturm für Temperaturen von minus 100 Grad sorgen und auch den Golfstrom abschalten werde, der die Küsten Nordeuropas mit tropischem Wasser umspült, weswegen in London an der Themse nicht das gleiche |99| Klima herrscht wie in London in Ontario. Eine neue Eiszeit werde der Supersturm auslösen, den größten Teil Nordamerikas unbewohnbar machen. Wie nicht anders zu erwarten, bleibt der Präsident skeptisch. Nichts geschieht. Stunden später bricht der Sturm los, und Halls Sohn sitzt in New York fest. Es folgen die üblichen Heldentaten.
    Ich möchte den Plot nicht vollends verderben, indem ich das Ende des Films verrate, nur so viel sagen, dass Lake Agassiz den Golfstrom tatsächlich ausgeschaltet hat, woraufhin sich die Dinge um 10   800 v. u. Z. allerdings etwas anders entwickelt haben als im Film. Es gab keinen Supersturm, doch die Welt glitt für 1200 Jahre – so lange, wie sich der See in den Atlantik ergoss – in eiszeitliche Bedingungen zurück. (Geologen nennen die Periode von 10   800 bis 9600 v. u. Z. das Jüngere Dryas, nach dem botanischen Namen der Weißen Silberwurz, einer Pflanze, die damals in allen Torfmooren verbreitet war.) Die wilden Graspflanzen, die die Dauersiedlungen im Fruchtbaren Halbmond ernährt und uns Mäuse und Hunde beschert hatten, wuchsen nun kleiner und trugen auch weniger und kleinere Samenkörner. 1*
    Die Menschen waren verstoßen worden aus dem Garten Eden. Sie mussten die ganzjährigen Siedlungen aufgeben, sich wieder in kleinere Gruppen aufteilen und erneut ihre Wanderungen durch das Hügelland aufnehmen, stets auf der Suche nach der nächsten Mahlzeit – sie lebten also nicht viel anders als ihre Vorfahren in den kältesten Etappen der Eiszeit. Knochenfunde aus dem Fruchtbaren Halbmond zeigen, dass um 10   500 v. u. Z. auch die Gazellen weniger wurden, ein Zeichen dafür, dass die Menschen die Bestände überjagt hatten. Außerdem weist der Schmelz menschlicher Zähne nun Grate auf, die dafür sprechen, dass Menschenkinder zu dieser Zeit chronisch unterernährt waren.
    Und es ereignete sich noch eine weitere Katastrophe von ähnlichem Ausmaß. Wieder müssen wir, um eine anschauliche Parallele zu finden, auf Science-Fiction zurückgreifen. 1941 hat Isaac Asimov, damals am Anfang seiner Karriere, im Magazin
Astounding Science Fiction
die Kurzgeschichte
Und Finsternis wird kommen…
veröffentlicht, die er auf Lagash spielen ließ, einem Planeten mit sechs Sonnen. Wohin die Lagashianer auch gehen, mindestens eine Sonne scheint ihnen immer, und es ist stets Tag auf ihrem Planeten – mit Ausnahme jenes einen, alle 2049 Jahre wiederkehrenden Tages, an dem die Sonnen sich so aufreihen, dass der vorüberziehende Mond sie alle auf einmal verdecken und eine totale Sonnenfinsternis erzeugen kann. Der Himmel wird schwarz, plötzlich sieht man die Sterne. |100| Die verstörte Bevölkerung läuft Amok: Am Ende der Sonnenfinsternis haben die Lagashianer ihre gesamte Zivilisation zerstört und sich selbst in den Zustand der Barbarei zurückversetzt. In den nun folgenden 2049 Jahren bauen sie ihre Kultur langsam wieder auf, bis sich die Nacht erneut über ihren Planeten senkt und der ganze Prozess von vorne beginnt.
    Jüngeres Dryas – das klingt wie
Lagash revisited
: Die Umlaufbahn der Erde erzeugt ein wildes Hin und Her zwischen Frost- und Tauwetter, was im Abstand von einigen Jahrtausenden zu Katastrophen wie dem Auslaufen des Lake Agassiz führt und damit wohl auch zum völligen Neuanfang der Geschichte. Doch Asimovs
Und Finsternis wird kommen …
mag eine großartige Erzählung sein (die Science Fiction Writers of America wählten sie gar zur besten Science-Fiction-Geschichte aller Zeiten), ein gutes Beispiel für historisches Denken liefert sie nicht. Denn in der wirklichen Welt konnte selbst eine Periode wie das Jüngere Dryas nicht immer wieder zum historischen Nullpunkt zurückführen wie auf Lagash. Wir sollten besser Heraklit folgen, der 2500 Jahre bevor sich Asimov ans Schreiben setzte festhielt, dass man nie zweimal in denselben Fluss steigen könne. 3 Es ist ein berühmtes Paradox. Die Wirbel, die man beim ersten In-den-Fluss-Steigen erzeugt hat, sind längst ins Meer geflossen, wenn man sich das zweite Mal hineinwirft; der Fluss ist tatsächlich nicht mehr derselbe.
    In diesem Sinn kann man auch die gleiche Eiszeit nicht zweimal erleben. Die Gesellschaften im Fruchtbaren Halbmond waren, als um 10   800 v. u. Z. die Dämme des Lake Agassiz

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