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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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die Erbauer ein paar Körbe Erde in diese letzte Kammer geleert hatten, legten sie kurz über dem Boden sechs menschliche Schädel ohne Unterkieferknochen ab. Die Schädel waren in miserablem Zustand; es sah aus, als seien sie lange Zeit hin und her getragen worden, bevor sie hier bestattet wurden.
    |102| Was nur haben diese Leute getan? Es ist unter uns Archäologen ein stehender Witz, alle Grabungsfunde, auf die wir uns keinen rechten Reim machen können, zu etwas Religiösem zu erklären. (Ich habe gerade die Ausgrabung einer Stätte auf Sizilien abgeschlossen, von der ich tatsächlich annehme, dass sie religiöse Bedeutung hat; darum muss ich bekennen, dass ich diesen Witz nicht mehr wirklich lustig finde.) Natürlich können wir untergegangene Religionen nicht ausgraben, das aber heißt nicht, dass sich Archäologen die Dinge einfach zurechtlegen, wenn sie über prähistorische Religionen sprechen.
    Wenn wir von einer einigermaßen vernünftigen Definition von Religion ausgehen – wenn wir also etwa sagen, Religion sei der Glaube an mächtige, übernatürliche, normalerweise unsichtbare Wesen, die sich um die Menschen kümmern, aber auch erwarten, dass die Menschen sich ihrerseits um sie kümmern 2* –, dann sind wir wohl auch in der Lage, Relikte von Ritualen (von rituellen Einrichtungen ), mittels derer Menschen mit einer göttlichen Welt kommuniziert haben, als solche zu erkennen. Was nicht heißen muss, dass wir sie auch verstehen oder deuten können.
    Rituale sind bekanntlich kulturspezifisch. Abhängig davon, in welcher Zeit und Gegend man sich befindet, kann es sein, dass die Übermächtigen einem nur dann zuhören, wenn man das Blut einer lebenden weißen Ziege über die rechte Flanke dieses einen bestimmten Steins rinnen lässt; oder nur dann, wenn man die Schuhe auszieht und sich zum Gebet in einer bestimmten Himmelsrichtung niederkniet; oder wenn man seine Missetaten einem schwarz gekleideten Mann erzählt, der keinen Geschlechtsverkehr hat. Und so weiter, die Liste ist endlos. Doch trotz ihrer wundersamen Vielfalt haben Rituale gewisse Züge gemeinsam. Viele verlangen bestimmte Orte (Berggipfel, Höhlen, ungewöhnliche Bauwerke), Objekte (Bilder, Statuen, wertvolle oder fremde Güter), Bewegungen (Prozessionen, Pilgerreisen), Kleidung (von äußerst förmlich bis völlig zerlumpt). Das alles sind Mittel zur Verstärkung des Empfindens, nun den Bereich des Alltäglichen zu verlassen. Auch das Feiern von Festen, häufig mit ganz besonderem Essen, dient diesem Zweck, ebenso das Fasten, mit dem man sich in einen anderen Bewusstseinszustand versetzen kann. Schlafentzug, Schmerzen, repetitives Singen oder Tanzen oder auch (am beliebtesten) die Einnahme von Drogen – alles wirkt in die gleiche Richtung und kann wirklich fromme Menschen in Trance, Verzückung versetzen, sie »sehend« machen.
    Die beschriebenen Fundstätten haben eine Menge davon: merkwürdige Räume halb unter der Erde, menschenähnliche Säulen, kieferlose Schädel – und selbst wenn in der Religionsarchäologie alles spekulativ ist, ich finde es schwer, jene Stätten nicht als religiöse Antworten auf das Jüngere Dryas zu sehen. Die Welt erstarrte im Frost, Pflanzen starben ab, die Gazellen zogen davon – was wäre in |103| einer solchen Situation naheliegender, als Götter, Geister oder Ahnen um Hilfe zu bitten? Was läge näher, als bestimmte Menschen auszuwählen und besondere Orte zu schaffen, um die Verständigung mit den übernatürlichen Wesen zu erleichtern? Der Schrein in Qermez Dere wirkt wie ein Verstärker, der die Lautstärke des Hilferufs erhöht.
    Als sich dann, gegen Ende des Jüngeren Dryas, um etwa 9600 v. u. Z. die Welt wieder erwärmte, war der Fruchtbare Halbmond nicht mehr die Gegend, die er 3000 Jahre zuvor am Ende der Haupteiszeit gewesen war, als die Welt schon einmal wärmer geworden war. Auch globale Erwärmung trifft nicht zweimal auf die gleiche Gesellschaft. Fundstätten aus früheren Wärmeperioden wie Ain Mallaha vermitteln den Eindruck, als hätten die Menschen die Wohltaten der Natur gerne und unbedenklich angenommen. In den Siedlungen jedoch, wie sie nach 9600 v. u. Z. im Fruchtbaren Halbmond aus dem Boden schossen, steckten die Menschen beträchtliche Ressourcen in religiöse Anlagen und Aktivitäten. Viele der nach 9600 v. u. Z. entstandenen Ansiedlungen enthalten Zeugnisse dafür, dass es mit Schädeln von Menschen oder Auerochen eine besondere Bewandtnis gehabt haben muss. Zu einigen der

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