Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
haben eine wunderbare Eigenschaft: Sie produzieren im Sommer und im Winter unterschiedlich gefärbten Zahnschmelz, und der erleichtert es festzustellen, wann die Tiere getötet wurden. In Ain Mallaha wurden Zähne beider Farben gefunden, woraus man wohl schließen kann, dass die Menschen das ganze Jahr über in dieser Siedlung lebten. Außerhalb des Fruchtbaren Halbmonds wurden keine Siedlungen dieser Art gefunden.
Wenn Menschen in größeren Gruppen sesshaft wurden, wird dies die Beziehungen zwischen ihnen und zu ihrer Umgebung verändert haben. Zuvor mussten sie ihrer Nahrung folgen, also ständig in Bewegung bleiben. Ganz sicher werden sie sich zu jedem Platz, an dem sie für eine Weile Rast machten, Geschichten erzählt haben: Das ist die Höhle, in der mein Vater starb; da drüben hat unser Sohn die Hütte niedergebrannt; an jener Quelle dort sprechen die Geister, und so weiter. Ain Mallaha jedoch war nicht einfach ein Ort unter anderen entlang eines Rundwegs – für die Menschen, die dort lebten, war es
der
Ort. Hier waren sie geboren worden, aufgewachsen, hier würden sie sterben. Statt die Toten irgendwo zurückzulassen, wohin sie vielleicht jahrelang nicht wieder kommen würden, begruben sie ihre Angehörigen nun zwischen ihren Häusern oder auch in diesen; sie verwurzelten auch die Vorfahren an diesem bestimmten Ort. Die Menschen investierten in ihre Häuser, bauten sie wieder und wieder um.
Sie begannen auch, sich über ihre Abfälle Gedanken zu machen. Die eiszeitlichen Sammler waren ziemlich unordentliche Leute gewesen, die ihre Nahrungsreste einfach an ihren Lagerstätten verstreuten. Was sprach auch dagegen? Bis Maden kamen oder Aasfresser auftauchten, waren die Gruppen längst weitergezogen, auf der Suche nach neuen Nahrungsquellen. In Ain Mallaha war das etwas ganz anderes. Die Leute dort zogen nirgendwohin weiter, sie mussten mit ihren Abfällen leben. Die Ausgräber fanden Tausende von Ratten- und Mäuseknochen – Tiere, die es in der uns bekannten Form während der Eiszeit nicht gegeben hatte. Frühere Aasfresser hatten menschliche Abfälle in eine breitere Ernährungsstrategie einbauen müssen. Es war für sie nur ein angenehmes Zubrot, wenn Menschen Knochen oder Nüsse auf dem Boden einer Höhle zurückließen, doch jede Protoratte, die sich auf diese Nahrungsquelle spezialisiert hätte, wäre, bis sich die nächste Gruppe in der Höhle zeigte und für Nachschub sorgte, längst verhungert gewesen.
[Bild vergrößern]
Abbildung 2.3: Die Wiege des Westens
Fundstätten im Fruchtbaren Halbmond, von denen dieses Kapitel handelt
|95| Dauersiedlungen dagegen veränderten die Lebensbedingungen für Nagetiere. Ununterbrochen waren köstlich duftende Müllhaufen erreichbar, und wenn Ratten und Mäuse klein blieben und heimlich umherhuschten, konnten sie den Menschen auf der Nase herumtanzen, hatten unter den neuen Verhältnissen bessere Chancen als große aggressive Exemplare, die sofort Aufmerksamkeit auf sich zogen. Innerhalb einiger Dutzend Generationen (ein Jahrhundert ist bereits ein großer Zeitraum, schließlich vermehren sich Mäuse eben wie Mäuse) verwandelten sich Nagetiere genetisch so, dass sie mit den Menschen zusammenleben konnten. Verstohlen umherschleichende, angepasste Schädlinge lösten ihre großen wilden Vorgänger so vollständig ab wie
Homo sapiens
die Neandertaler.
Die unfreiwillig domestizierten Nagetiere bedankten sich für das Geschenk des unablässigen Abfallnachschubs, indem sie ihre Eingeweide in die Nahrungsmittel- und Wasserspeicher entleerten und die Verbreitung von Krankheiten beschleunigten. Bald fanden Menschen Ratten aus eben diesem Grund unerträglich; manchen von uns sind sogar Mäuse unheimlich. Die unheimlichsten Aasfresser, die menschliche Abfälle ebenfalls unwiderstehlich fanden, waren allerdings Wölfe. Die meisten Menschen finden es unbehaglich, wenn furchterregende Monster – so wie in Jack Londons Roman
Ruf der Wildnis
– um ihre Behausungen schleichen, und so kamen auch hier, wie bei den Nagetieren, kleine und weniger bedrohliche Tiere besser zurecht.
Lange haben Archäologen vermutet, dass die Menschen Hunde aktiv domestiziert haben, indem sie Wolfswelpen zähmten, zu Haustieren machten und die zahmsten von ihnen miteinander kreuzten, um noch zahmere Welpen hervorzubringen, die Menschen fast so sehr lieben wie diese sich selbst und ihresgleichen. Doch wie jüngere Studien ergeben haben, war auch hier die natürliche Zuchtwahl am Werk, ohne
Weitere Kostenlose Bücher