Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
Vom Netzwerk:
Gange, vom heutigen Israel bis in den Südosten der Türkei; um 8500 v. u. Z. dann war großkörniges Getreide in der gesamten Region normaler Standard.
    Legt man moderne Maßstäbe an, vollzog sich der Wandel langsam, aber in den nächsten 1000 Jahren war er doch ausgeprägt genug, dass sich der Fruchtbare Halbmond zunehmend von jedem anderen Weltteil unterschied. Ohne es zu wissen, |105| sorgten seine Bewohner über Generationen hinweg dafür, Pflanzen genetisch zu verändern und dadurch vollständig domestizierte Getreidesorten heranzuziehen, die sich ohne menschliches Zutun nicht mehr vermehren konnten. Wie die Hunde brauchten auch diese Pflanzen uns Menschen ebenso sehr wie wir sie.
    Pflanzen, nicht anders als Tiere, durchlaufen Evolutionsprozesse, weil es zu zufälligen Mutationen kommt, wenn die DNA von einer Generation zur nächsten weitergegeben, also kopiert wird. Immer mal wieder erhöht eine solche Mutation die Reproduktionschancen einer Pflanze. Und das gilt vor allem dann, wenn sich gleichzeitig auch die Umwelt ändert. Dies war etwa der Fall, als dauerhafte Siedlungen Nischen schufen, in denen kleine zahme Wölfe gegenüber großen wilden im Vorteil waren. Oder dann, wenn Kultivierung die Reproduktionschancen großer Sämlinge erhöhte. Wie bereits dargestellt, reproduzieren sich wilde Getreidepflanzen, indem jedes Samenkorn reift und zu seiner Zeit zu Boden fällt, woraufhin die Hülle platzt und der Samen keimen kann. Wenn nun einige Pflanzen – nur eine unter ein bis zwei Millionen normaler Pflanzen – eine zufällige Mutation durchlaufen haben, die den Fruchtstand, der die Samen mit der Pflanze verbindet, und die Samenhaut, die den Samen schützt, stärkt, dann fallen deren Samen nach der Reifung nicht zu Boden und die Samenhülle kann nicht aufplatzen. Diese Samen verlangen geradezu nach jemandem, der oder die zum Ernten kommt und die Körner einsammelt. Bevor es solche Erntehelfer gab, sind die mutierten Pflanzen jedes Jahr ausgestorben, denn ihre Samen gelangten nicht auf die Erde, keimten nicht – die Mutation brachte also einen Nachteil mit sich. Das Gleiche geschah, so lange die Menschen die Pflanzen nur schüttelten und die Samen auffingen. Auch dann fielen die mutierten Samen nicht auf den Boden, und die Pflanze starb aus.
    Was musste geschehen, um diese Situation zu ändern? Archäobotaniker streiten leidenschaftlich darüber. Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass die gute alte Gier mit von der Partie war. Nachdem sie ihre Energie in Hacken, Jäten und Bewässern der besten Standorte für Graspflanzen investiert hatten, könnte den Frauen (wir nehmen an, dass sie es waren) der Gedanke gekommen sein, aus ihren Pflanzen auch noch das letzte bisschen Nahrung herauszuholen. Sie werden also nicht nur einmal, sondern mehrfach gekommen sein, um die Fruchtstände der Grasbüschel auszuschütteln – und hätten dabei gewiss bemerkt, dass einige widerspenstige Pflanzen ihre Samen einfach nicht losließen: nämlich die Mutanten mit der widerstandsfähigen Rhachis. Was hätte dann näher gelegen, als die widerständigen Stiele auszurupfen und die ganze Pflanze mit nach Hause zu nehmen? Die Stiele von Weizen und Gerste wiegen nicht viel, und ich bin mir ziemlich sicher, wie zumindest ich auf Getreidepflanzen reagiert hätte, die ihre Samen nicht rausrücken wollten.
    Wenn die Frauen nun eine zufällige Auswahl der nach Hause gebrachten Saaten wieder ausstreuten, dann brachten sie mit den normalen auch mutierte Samen aus; womöglich waren die Samen mutierter Pflanzen sogar leicht in der Überzahl, |106| weil zumindest einige Samen normaler Pflanzen bereits aus den Fruchtständen gefallen und damit verloren gegangen wären. Jedes Jahr, in dem die Frauen ihre Saat ausbrachten, müssen sie so an ihren kultivierten Standorten den Anteil der Mutanten leicht vergrößert haben. Auch das war natürlich ein lähmend langsamer Prozess, der den Beteiligten zudem verborgen blieb, und doch setzte er eine evolutionäre Spirale in Gang, die nicht weniger dramatische Folgen hatte als das, was den Mäusen in den Abfallgruben widerfuhr. Innerhalb von einigen Jahrtausenden wartete pro Feld mit einer oder zwei Millionen nicht mehr nur eine Pflanze auf den erntenden Menschen, sondern so gut wie alle. Denn inzwischen waren alle Pflanzen genetisch modifiziert. Die ausgegrabenen Siedlungsstätten zeigen, dass noch um 8500 v. u. Z. die Funde von vollständig domestiziertem Getreide wie Weizen oder Gerste kaum der Rede wert

Weitere Kostenlose Bücher