Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
allgemeines Gesetz formuliert: »Von der entferntesten Vergangenheit, die sich die Wissenschaft vorstellen kann, bis zu den Neuigkeiten von gestern – das, worin Fortschritt im Wesentlichen besteht, ist die Verwandlung des Homogenen ins Heterogene.« Evolution verstand Spencer als den Prozess, in dem Dinge einfach beginnen und immer komplexer werden. Alles und jedes lasse sich so erklären:
Das Voranschreiten vom Einfachen zum Komplexen durch einen Prozess sukzessiver Differenzierungen lässt sich bereits in den frühesten Veränderungen des Universums beobachten, zu denen wir uns denkend zurückbewegen können, ebenso in den frühesten Veränderungen, die wir induktiv erfassen können; dieser Prozess lässt sich beobachten an der geologischen und klimatischen Evolution der Erde; an der Entfaltung jedes einzelnen Organismus auf dieser Erde und an der Vervielfältigung der Arten von Organismen; er lässt sich beobachten an der Evolution der Menschheit, ob man diese am zivilisierten Einzelnen oder im Aggregat der Rassen betrachtet; er lässt sich beobachten an der Evolution der Gesellschaft im Hinblick sowohl auf ihre politische als auch auf ihre religiöse und ihre wirtschaftliche Organisation; und er lässt sich beobachten an der Entwicklung all dieser zahllosen konkreten und abstrakten Produkte menschlicher Tätigkeiten, die die Umgebung unseres täglichen Lebens konstituieren. 1
Die nächsten vierzig Jahre verbrachte Spencer damit, Geologie, Biologie, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft und Ethik zu einer einzigen Theorie |142| zusammenzufassen, in der, wie in allem Lebendigen, auch nur ein Prinzip wirksam ist: die Evolution. Das gelang ihm so gut, dass er um 1870 der wohl einflussreichste englischsprachige Philosoph war. Als chinesische und japanische Intellektuelle es an der Zeit fanden, den Erfolg des Westens verstehen zu lernen, gehörte Spencer zu den ersten europäischen Autoren, die sie übersetzten. Die großen Geister der Epoche verbeugten sich vor seinen Ideen. Die erste Ausgabe von Charles Darwins
Über die Entstehung der Arten
erschien 1859, das Wort »Evolution« enthielt sie nicht, ebenso wenig die zweite und dritte Auflage, auch nicht die vierte oder fünfte. Erst in der sechsten Neuauflage, 1872, fühlte sich Darwin gezwungen, auf den Begriff zurückzugreifen, den Spencer inzwischen popularisiert hatte. 1*
Spencer glaubte, dass sich Gesellschaften durch vier Stadien der Differenzierung hindurch entwickelt hatten, vom Einfachen (umherziehende Horden ohne Anführer) über das Zusammengesetzte (Dauersiedlungen mit politischen Führern) und doppelt Zusammengesetzte (Gruppen mit Kirchen, Staaten, komplexer Arbeitsteilung und Gelehrtentum) bis zum dreifach Zusammengesetzten (große Zivilisationen wie Rom oder das viktorianische Großbritannien). Das Schema machte Schule, auch wenn keine zwei Theoretiker darüber einig waren, wie diese Stadien zu benennen wären. Für manche vollzog sich die Evolution von der Wildheit über die Barbarei zur Zivilisation; für andere von der Magie über die Religion zur Wissenschaft. 1906 war das Dickicht der Terminologie ein derartiges Ärgernis geworden, dass Max Weber, der Gründervater der Soziologie, über die Geziertheit zeitgenössischer Autoren klagte: Sie verhielten sich gegenüber der Terminologie anderer »wie etwa gegenüber ihrer Zahnbürste« 2 .
Welche Etiketten die Evolutionisten auch verwendeten, alle kämpften mit dem gleichen Problem. Sie glaubten sich auf dem absolut richtigen Weg, hatten aber wenig Beweise, dies zu belegen. Darum machte sich die Anthropologie, die sich gerade als eigene Disziplin herausbildete, daran, entsprechende Daten und Fakten zu liefern. Einige Gesellschaften, so dachte man, seien weniger entwickelt als andere: Man könne also die kolonisierten Völker Afrikas oder die Bewohner der Trobriand-Inseln mit ihren Steinwerkzeugen und auffallenden Sitten betrachten, als seien sie lebende Vorfahren und führten vor, wie zivilisierte Menschen aus dreifach zusammengesetzten Gesellschaften in prähistorischen Zeiten gewesen sein müssen. Ein Anthropologe hätte demnach nichts anderes zu tun (abgesehen davon, dass er mit Malaria, Parasiten und undankbaren Eingeborenen fertig werden musste), als sich genaue Notizen zu machen, dann könnte er wieder heimfahren und die Lücken der Evolutionsgeschichte füllen.
|143| Es war dieses Programm, das Bronisław Malinowski ablehnte. Eigentlich ist auch kaum verständlich, dass man
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