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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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Unterschiede in der Nahrungszubereitung Ost und West auf unterschiedliche Entwicklungsschienen gesetzt haben.

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    Tabelle 2.1: Ein Vergleich der Anfänge im Westen und im Osten
    |138| Vielleicht hat ja die westliche Art des Garens mehr Nährstoffe erschlossen, die Menschen also stärker gemacht. Aber das ist nicht wirklich überzeugend. Anatomische Studien geben ein eher düsteres Bild des Lebens in den landwirtschaftlichen Kerngebieten sowohl des Ostens als auch des Westens. Es war, wie der englische Philosoph Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert schrieb, »ein einsames, kümmerliches, rohes und kurzdauerndes Leben« (wenn auch nicht notwenig brutal). Im Osten wie im Westen waren die ersten Ackerbauern unterernährt, verkümmert, sie schleppten eine Menge Parasiten mit sich herum, hatten schlechte Zähne und starben früh. In beiden Regionen haben Neuerungen in der Landwirtschaft die Ernährung verbessert; und in beiden Regionen entwickelten sich in den Führungsschichten einfallsreichere Küchenpläne. Dass der Osten vom Kochen abhing, war nur einer unter vielen Unterschieden in der Nahrungszubereitung; insgesamt jedoch überwiegen die Ähnlichkeiten in der Ernährung die Unterschiede bei weitem.
    Vielleicht aber führten die Unterschiede in der Nahrungszubereitung zu unterschiedlichen Mustern der Nahrungsaufnahme und damit auch zu unterschiedlichen Familienstrukturen, mit langfristigen Folgen. Doch auch das ist nicht sehr wahrscheinlich. Die frühesten Ackerbauern in Ost und West haben ihre Nahrungsmittel offenbar gemeinsam gelagert, zubereitet und wohl auch verzehrt; erst in den darauf folgenden Jahrtausenden haben sie das auf kleinerer Familienebene gemacht. Und auch dabei überwiegen die Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West die Unterschiede. Die frühe Erfindung der Keramik im Osten ist gewiss ein interessanter Unterschied, doch zur Erklärung, warum der Westen die Welt regiert, scheint er nichts Wesentliches beizutragen.
    Und was ist mit der frühen Anlage aufwändiger Gräber im Osten? Was mit der noch früheren Anlage aufwändiger Heiligtümer im Westen? Ich vermute, dass diese Entwicklungen einander Spiegelbilder sind. Beide stehen sie, wie wir gesehen haben, in engem Zusammenhang mit dem Ahnenkult, der sich herausbildete und intensiver wurde, als der Ackerbau das, was die Toten hinterließen, zum wichtigsten Faktor des wirtschaftlichen Lebens machte. Aus Gründen, die wir wahrscheinlich niemals verstehen werden, haben die Menschen im Osten und im Westen verschiedene Formen dafür gefunden, den Ahnen Dank abzustatten und mit ihnen in Verbindung zu treten. Einige Gruppen im Westen hatten wohl die Vorstellung, dies ließe sich am besten bewerkstelligen, wenn man die Schädel verstorbener Verwandter herumreichte, Gebäude mit Stierschädeln und Säulen anfüllte und darin Menschen opferte; die im Osten fühlten sich offenbar besser, wenn sie mit ihren Verwandten aus Jade geschnitzte Tierfiguren begruben, die Grabstätten verehrten und schließlich andere Menschen köpften und zu den Toten in die Gräber stießen. Unterschiedliche Einfälle unterschiedlicher Menschen, aber ähnliche Wirkungen.
    Zwei Schlüsse, denke ich, lassen sich aus Tabelle 2.1 ziehen. Erstens: Die frühen Entwicklungen in den westlichen und östlichen Kerngebieten waren einander |139| zumeist ziemlich ähnlich. Ich möchte die tatsächlichen Unterschiede nicht herunterspielen, die sich, von der Machart der Steinwerkzeuge bis zu den Pflanzen und Tieren, die die Menschen verzehrten, überall zeigen, doch keiner dieser Unterschiede spricht sonderlich für eine Theorie langfristiger Determinierung, von der zu Anfang die Rede war; keiner spricht dafür, dass irgendetwas auf dem Weg, den die westliche Kultur nach der letzten Eiszeit einschlug, dieser mehr Potenziale verschafft hätte als der östlichen und dass aus diesem Grund der Westen die Welt regiert. Diese These ist offensichtlich falsch.
    Wenn sich angesichts der in Tabelle 2.1 dargestellten Fakten überhaupt eine der Theorien langfristiger Determinierung halten lässt, dann nur die simpelste von allen: Der Westen hat in seiner Entwicklung dank geographischer Vorteile einen 2000-jährigen Vorsprung gehabt und diesen lange genug gehalten, um als Erster bei der Industrialisierung anzulangen, und kann darum die Welt beherrschen. Um diese Theorie zu überprüfen, um zu sehen, ob es sich tatsächlich so verhält, müssen wir unseren Ost-West-Vergleich auf jüngere Epochen

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