Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
ausdehnen.
Das klingt ziemlich einfach. Doch die zweite Lehre, die sich aus Tabelle 2.1 ziehen lässt, ist, dass kulturübergreifende Vergleiche ihre Tücken haben. Das Auflisten bedeutsamer Veränderungen in zwei Spalten taugte für den Anfang, denn wir mussten, um die Anomalien der Gegenüberstellung zu deuten, Kochen und Backen, Schädel und Gräber in einen Zusammenhang bringen. Nur so konnten wir herausfinden, was sie innerhalb der prähistorischen Gesellschaften bedeutet haben mögen. Und das stürzt uns in eines der zentralen Problemfelder von Kulturanthropologie oder Ethnologie: das komparative Studium unterschiedlicher Gesellschaften.
Als europäische Missionare und Beamte im 19. Jahrhundert damit begannen, Informationen über die Völker in ihren kolonialen Imperien zu sammeln, wunderten sich Wissenschaftler über diese Berichte und Darstellungen ausländischer Sitten. Kulturanthropologen 1* haben diese Aktivitäten katalogisiert, haben Überlegungen angestellt zu ihrer Verbreitung rund um den Globus und auch darüber, was sie uns sagen könnten über die Entwicklung zivilisierteren Verhaltens (womit letztlich natürlich europäisches Verhalten gemeint war). Sie schickten neugierige Studenten in exotische Gegenden, um weitere Beispiele zu sammeln. Einer dieser aufgeweckten jungen Männer war Bronislaw Malinowski, ein Pole, der in London studiert hatte und sich auf den Trobriand-Inseln aufhielt, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach. Er fand kein Schiff, mit dem er hätte nach Hause fahren können, |140| also tat Malinowski das in seiner Lage einzig Vernünftige. Statt sich verstimmt in sein Zelt zurückzuziehen, suchte er sich eine Freundin. Und so lernte er bis 1918 die Kultur der Trobriander von innen heraus zu verstehen. Er begriff, was den Professoren in ihrer reinen Büchergelehrsamkeit entgehen musste: Ethnologie bedeutet zu verstehen, wie die Sitten einer Kultur zusammenpassen. Vergleichen lassen sich Kulturen nur in ihrer Gesamtfunktion, nicht aber einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Praktiken, denn ein und dasselbe Verhalten kann in unterschiedlichen Kontexten ganz unterschiedliche Bedeutung haben. So kann dich das Tätowieren des Gesichts in Kansas zum Beispiel zum Rebellen machen, in Neuguinea dagegen erweist es dich als Konformisten. Ähnlich kann die gleiche Vorstellung in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlichen Ausdruck finden, so wie das Weitergeben von Schädeln und das Bestatten von Jade im prähistorischen Westen und Osten gleichermaßen Verehrung der Ahnen bedeutet.
Malinowski hätte Tabelle 2.1 missbilligt. Wir können, hätte er gesagt, aus zwei funktionierenden Kulturen keine Wundertüte von Sitten machen und anhand dieser beurteilen, welche der beiden Kulturen besser abschneidet. Und ganz sicher können wir auch keine Bücher schreiben mit Kapiteln wie »Der Westen übernimmt die Führung«. Was eigentlich, so hätte er gefragt, wollen wir mit »führen« sagen? Wie um alles in der Welt könnten wir rechtfertigen, aus dem nahtlosen Gewebe des Lebens einfach spezifische Praktiken herauszulösen und diese gegeneinander abzuwägen? Und selbst wenn wir die Wirklichkeit derart auflösen könnten, woher sollten wir wissen, welche Bruchstücke wir miteinander vergleichen dürfen?
Allesamt triftige Fragen, und wir müssen sie beantworten, wenn wir erklären wollen, warum der Westen die Welt regiert – selbst wenn die Suche nach Antworten Ethnologie und Kulturanthropologie in den letzten 50 Jahren schier zerrissen hat. Mit einiger Beklemmung stürze ich mich nun in diese aufgewühlten Gewässer.
|141| Kapitel 3
Die Vermessung der Vergangenheit
Die Archäologie entwickelt sich
Evolution war eine noch ziemlich neue Vorstellung, als Kulturanthropologen gegen diesen Begriff zu rebellieren begannen, wie Ende des letzten Kapitels angedeutet. Seine moderne Bedeutung erhielt das Wort im Jahr 1857, als der Engländer Herbert Spencer, im Selbststudium zum Universalgelehrten geworden, einen Aufsatz mit dem Titel »Progress: Its Law and Cause« veröffentlichte. Spencer war ein sonderbarer Mensch, der sich in diversen Berufen versucht hatte, als Eisenbahningenieur, als Redakteur im damals brandneuen Magazin
The Economist
, auch als Liebespartner der Romanautorin George Eliot – doch nichts hatte ihn auf Dauer befriedigt. Zeitlebens blieb er ohne festen Beruf, zeitlebens unverheiratet. Der genannte Aufsatz jedoch wurde über Nacht zur Sensation. Spencer hatte ein seiner Meinung nach
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