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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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Leone und ihre Menschen wissen kann. Aber meine vier Merkmale liefern doch brauchbare Momentaufnahmen des jeweiligen Stands der gesellschaftlichen Entwicklung, die uns die langfristigen und erklärungsbedürftigen Muster erkennen lassen. Nur dann können wir sagen, warum der Westen die Welt regiert.
    Mein erstes Merkmal ist die Energieausbeute. Ohne die Fähigkeit, Energie aus Pflanzen und Tieren zu ziehen, um damit Soldaten und Seeleute zu ernähren, die ihrerseits kaum Landwirtschaft betrieben, ferner Energie aus Wind und Kohle zu ziehen, um damit Schiffe bis nach China gelangen zu lassen, und zuletzt auch Energie aus Sprengstoffen zu ziehen, um mit Granaten chinesische Garnisonen auszuschalten – ohne diese Fähigkeit, sich Energien nutzbar zu machen, hätten die Briten 1840 niemals Tinghai erreichen und es in Schutt und Asche legen können. Energieausbeute ist fundamental für die gesellschaftliche Entwicklung – so grundlegend, dass der berühmte Anthropologe Leslie White bereits in den 1940er Jahren den Vorschlag machte, die gesamte Menschheitsgeschichte auf eine einzige Gleichung zu reduzieren: nämlich auf
E x T → K
, wobei
E
für Energie steht,
T
für Technik und
K
für Kultur. 13
    Das ist beileibe nicht so banausisch kulturlos, wie es klingt. Natürlich war auch White nicht der Meinung, man müsse nur Energie mit Technik multiplizieren und schon wisse man alles Notwenige über Konfuzius und Platon, über den holländischen Meister Rembrandt und den chinesischen Landschaftsmaler Fan Kuan. Wenn White von »Kultur« sprach, dann meinte er in etwa das, was ich mit gesellschaftlicher Entwicklung bezeichne. Aber gerade dann ist seine Formel zu simpel für unsere Zwecke. Um das Geschehen in Tinghai zu erklären, müssen wir mehr wissen.
    Denn die beste Energieausbeute der Welt hätte das britische Expeditionskorps nicht bis nach Tinghai gebracht, wenn die Briten nicht in der Lage gewesen wären, dies auch zu organisieren. Königin Victorias Gefolgsleute mussten in der Lage sein, Soldaten auszuheben, sie zu bezahlen, auszurüsten und zu versorgen, ihnen Gehorsam gegenüber ihren Vorgesetzten und noch eine Menge anderer Dinge beizubringen. Auch diese organisatorische Fähigkeit müssen wir messen. Bis zu einem gewissen Grad deckt sie sich mit Spencers altem Konzept der Differenzierung, doch die Neoevolutionisten mussten in den 1960er Jahren die Erfahrung machen, dass es nahezu ausgeschlossen ist, Differenzierung direkt zu messen oder sie auch nur zur Zufriedenheit ihrer Kritiker zu definieren. Wir brauchen |154| einen Stellvertreter, etwas, das eng verbunden ist mit Organisationsfähigkeit, aber leichter zu messen.
    Ich habe dafür den Grad der Verstädterung gewählt. Das mag merkwürdig klingen, denn schließlich trägt der Umstand, dass London eine Riesenstadt war, nicht direkt zum Verständnis der Einnahmen von Lord Melbourne oder der Kommandostrukturen der Royal Navy bei. Ich denke aber, dass mit einer weiteren Überlegung mein Vorschlag plausibler wird. Es erforderte eine erstaunliche Organisationsleistung, um eine Stadt von drei Millionen Menschen zu erhalten. Es musste Leute geben, die Nahrungsmittel und Trinkwasser in die Stadt brachten, andere, die den Abfall abtransportierten, wieder andere, die für Arbeit sorgten, Gesetz und Ordnung aufrechterhielten, Brände löschten und all die anderen Aufgaben lösten, die tagein, tagaus in jeder großen Stadt anfallen.
    Ohne Zweifel sind einige der größten Städte unserer Welt dysfunktionale Albträume, beherrscht von Verbrechen, Verwahrlosung und Krankheiten. Aber das gilt von allen großen Städten der Geschichte. Rom hatte im 1. Jahrhundert v. u. Z. eine Million Einwohner; es gab Banden, die nicht nur die Straßen unsicher machten, sondern manchmal auch die Regierung lahmlegten und für so hohe Sterberaten sorgten, dass jeden Monat über 1000 Landbewohner in die Metropole ziehen mussten, nur um die Einwohnerzahlen konstant zu halten. Trotz aller römischen Missstände jedoch war die Organisation, die die Stadt am Leben erhielt, allem weit überlegen, was irgendeine frühere Gesellschaft hatte zustande bringen können – so wie die Verwaltung von Lagos (mit elf Millionen Einwohnern), Mumbai (19 Millionen Einwohner) oder gar Tokio (35 Millionen Einwohner) die Möglichkeiten des Römischen Reiches weit überfordert hätte.
    Aus diesem Grund nutzen Sozialwissenschaftler den Grad der Verstädterung als groben Richtwert für die organisatorischen Fähigkeiten

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