Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
bedeutet. Wirtschaftswissenschaftler werden dennoch eine Menge einzuwenden haben. Zunächst sind Lebenserwartung, Bildung und Einkommen nicht die einzigen Merkmale, die sich messen ließen. Sie sind zwar relativ leicht zu definieren und zu dokumentieren (bei anderen Punkten wie zum Beispiel Zufriedenheit wäre das viel schwieriger), doch wären vielleicht auch Beschäftigungsrate, Ernährung, Wohnverhältnisse oder Ähnliches zu berücksichtigen, und mit diesen Merkmalen ergäben sich wohl auch andere Punktwerte. Selbst manche der Ökonomen, die prinzipiell einverstanden sind mit der Auswahl, die die UN getroffen haben, finden |152| es bedenklich, diese zu einem Entwicklungswert zusammenfließen zu lassen. Dies sei doch, als addiere man Äpfel und Birnen, einfach lächerlich. Andere Ökonomen wiederum sind einverstanden sowohl mit den ausgewählten Variablen als auch mit deren Verschmelzung, doch sie erheben Einwände gegen die Gewichtung der UN-Statistiker: Die ermittelten Werte erweckten nur den Anschein der Objektivität, seien aber faktisch durch ihre Gewichtung hoch subjektiv. Wieder andere Kritiker lehnen das Verfahren grundsätzlich ab: Menschliche Entwicklung lasse sich nicht bewerten. Das, so sagen sie, erzeuge den Eindruck, als hätten Isländer und Norweger 96,8 Prozent des Wegs zur höchsten Glückseligkeit zurückgelegt und seien 2,9-mal so glücklich wie die Menschen in Sierra Leone – beides sei, gelinde gesagt, unwahrscheinlich.
Dennoch, trotz aller Kritik hat sich der HDI als ungeheuer nützlich erwiesen. Er verhalf Hilfsorganisationen dazu, ihre Mittel gezielt in die Länder zu lenken, in denen sie das meiste bewirken konnten, und selbst die Kritiker sind bereit zuzugeben, dass allein die Tatsache, dass es diesen Index gibt, zur Verdeutlichung der globalen Probleme beitrage. Ein Index für die gesellschaftliche Entwicklung in den letzten 15 000 Jahren ist nicht weniger prekär als der HDI der Vereinten Nationen, aber er wird, denke ich, auch ähnliche Vorteile bieten.
Wir sollten, wie die Wirtschaftswissenschaftler der UN, Einsteins Regel folgen. Der Index sollte so wenige Dimensionen der Gesellschaft abbilden wie möglich ( »mach es einfach«) und doch die wesentlichen Züge gesellschaftlicher Entwicklung enthalten ( »mach es nicht zu einfach«). Jede Dimension der Gesellschaft, die wir abbilden und bewerten, sollte sechs Kriterien des gesunden Menschenverstandes genügen. Erstens: Sie muss relevant sein, also etwas über gesellschaftliche Entwicklung aussagen. Zweitens: Sie muss kulturunabhängig sein. Auch wenn wir den Rang von Literatur und Kunst für nützliche Maßstäbe der Gesellschaftsentwicklung halten, wissen wir doch, dass gerade sie in hohem Maße kulturabhängig sind. Drittens: Die ausgewählten Eigenschaften müssen voneinander unabhängig sein. Wenn wir also die Bevölkerungsgröße eines Staates und den Reichtum in diesem Staat zu Merkmalen machen, dürfen wir den Reichtum pro Kopf nicht zum dritten Merkmal erklären, denn das wäre aus den ersten beiden errechnet. Viertens: Die Merkmale müssen angemessen dokumentiert sein. Das wird zum realen Problem, wenn wir Tausende von Jahren zurückblicken, denn die jeweils verfügbaren Funde fallen doch sehr unterschiedlich aus. Insbesondere für die Frühgeschichte wissen wir einfach nicht viel über möglicherweise brauchbare Merkmale. Fünftens: Die Merkmale müssen verlässlich sein, will sagen, die Fachleute müssen sich mehr oder weniger einig sein über die jeweils einschlägigen Befunde und ihre Interpretation. Sechstens: Es darf nicht zu schwierig sein, Daten zu diesen Merkmalen zu erheben. Das mag als das unbedeutendste Kriterium erscheinen, doch je schwerer es ist, Beweise für etwas zu finden, oder je länger es dauert, Ergebnisse zu berechnen, desto weniger brauchbar ist dieses Merkmal.
|153| So etwas wie ein perfektes Merkmal gibt es nicht. Unweigerlich wird jedes Merkmal, das wir auswählen, einigen der genannten Kriterien besser entsprechen als anderen. Aber nachdem ich mich ein paar Jahre mit den unterschiedlichen Optionen befasst habe, lege ich mich nun auf vier Merkmale fest, von denen ich glaube, dass sie alle sechs Kriterien gleich gut erfüllen. Sie verbinden sich mitnichten zu einem erschöpfenden Bild der östlichen beziehungsweise westlichen Gesellschaft – so wenig wie uns die Merkmale der Vereinten Nationen (Lebenserwartung, Bildung und Einkommen) alles verraten, was man über Island, Norwegen oder Sierra
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