Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
einer Gesellschaft. Uns bietet das Merkmal »Größe der größten Städte einer Gesellschaft« den zusätzlichen Vorteil, dass wir es nicht nur den offiziellen Statistiken ablesen können, die lediglich in den letzten Jahrhunderten produziert wurden, sondern auch den archäologischen Befunden. Wir können uns also bis zurück in die Eiszeit eine annähernde Vorstellung vom Organisationsgrad einer Gesellschaft verschaffen.
Doch mussten die Briten 1840 nicht nur physische Energie gewinnen und deren Anwendung organisieren, sondern auch wachsende Mengen von Informationen verarbeiten und weitergeben. Büchsenmacher, Schiffsbauer, Soldaten und Seeleute mussten zunehmend schriftliche Anweisungen, Pläne und Karten lesen; Briefe mussten zwischen Europa und Asien hin- und hergehen. Im 19. Jahrhundert war das englische Nachrichtenwesen verglichen mit dem, was für uns heute selbstverständlich ist, hoffnungslos unterentwickelt (persönliche Briefe brauchten drei Monate, um aus Guangzhou nach London zu gelangen; Sendungen der Regierung aus unerfindlichen Gründen sogar vier Monate). Doch war dies bereits ein immenser Fortschritt gegenüber dem 18. Jahrhundert, das wiederum Standards des 17. Jahrhunderts deutlich übertraf. Verarbeitung und Verbreitung von Nachrichten |155| ist entscheidend für die Entwicklung der Gesellschaft – darum mache ich sie zum dritten Merkmal.
Das letzte, aber leider nicht das unbedeutendste Merkmal ist die Fähigkeit, Kriege zu führen. So effektiv 1840 die britische Energieausbeute, deren Organisation und der Nachrichtenverkehr auch waren, ihre Zwecke erreichten sie nur, wenn alle drei im Verbund zur zerstörerischen Kraft wurden. In Kapitel 1 habe ich Arthur C. Clarke vorgehalten, dass er in seinem SF-Klassiker
Odyssee 2001
Evolution gleichsetzt mit der Fähigkeit zu töten. Aber er hatte insofern Recht, als ein Index gesellschaftlicher Entwicklung, in den die Entfaltung militärischer Macht nicht einginge, nutzlos wäre. Der Vorsitzende Mao hat das auf die berühmte Formel gebracht: »Jeder Kommunist muss diese Wahrheit begreifen: ›Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.‹« 14 Vor den 1840er Jahren konnte keine Gesellschaft ihre militärische Macht über den gesamten Erdball ausdehnen, weshalb die Frage, wer die Welt »regiert«, sinnlos gewesen wäre; nach 1840 aber wurde sie überaus bedeutsam.
Wie beim Human Development Index der Vereinten Nationen gibt es auch hier keinen Unparteiischen, der sagen könnte, dass gerade diese und keine anderen Merkmale die einzig richtigen sind, um den Grad gesellschaftlicher Entwicklung zu messen, und auch hier wird man jedes Mal zu anderen Ergebnissen kommen, wenn man die Merkmale austauscht. Allerdings gibt es auch eine gute Nachricht: Ich habe in den letzten Jahren mit allen möglichen Merkmalen experimentiert, und bei keiner Kombination hat sich das Ergebnis grundsätzlich geändert, bei allen blieb das Gesamtmuster gleich. 2*
Wäre Eddington ein Künstler gewesen, er hätte die Welt vielleicht in der Manier eines alten Meisters wiedergegeben, mit vielen Details, die zu sehen schmerzlich gewesen wäre. Demgegenüber gleicht das Erstellen eines Index der gesellschaftlichen Entwicklung dem Vorgehen eines Bildhauers, der versucht, einem Baumstamm mit einer Kettensäge die Form eines Grizzlybären abzugewinnen. Diese grobe und nur umrisshafte Art der Darstellung hätte Einsteins Haar noch weißer werden lassen, doch unterschiedliche Probleme verlangen auch unterschiedliche Fehlertoleranzen. Für den Künstler mit der Kettensäge zählt nur eine Frage, ob nämlich der Baumstamm zuletzt wie ein Grizzly aussieht; der vergleichende Historiker wiederum will vor allem wissen, ob der Index die Gesamtgestalt der Geschichte gesellschaftlicher Entwicklung abbildet oder nicht. Das allerdings müssen die Historiker unter sich beurteilen, indem sie das Muster, das der Index bietet, mit den Einzelheiten der historischen Aufzeichnungen vergleichen.
|156| Würde ein Index die Historiker zu dieser Arbeit anregen, dann wäre das ein Verdienst, das größer nicht sein könnte. Für Debatten ist Raum genug, schließlich könnten andere Merkmale und eine andere Zuordnung der Punktwerte ja bessere Ergebnisse liefern. Doch liegen die Zahlen erst einmal auf dem Tisch, dann zwingt dies alle Beteiligten dazu, genauer nachzusehen, wo sich möglicherweise Fehler eingeschlichen haben und wie sich diese korrigieren ließen. Das wäre noch immer keine Astrophysik, doch
Weitere Kostenlose Bücher